Was man in dieser Höhle alles erleben kann

Kluterthöhle in Ennepetal

Die Kluterthöhle in Ennepetali st äußerst vielseitig: Ort für Asthma-Kuren auf Liegestühlen, der sehnsüchtig gesuchte, besondere Ort für die Trauung und eine Gelegenheit für Nervenkitzel. Und bei den geführten Erlebnistouren kommen Hobby-Höhlenforscher richtig auf ihre Kosten. Ein Besuch.

Ennepetal

, 27.05.2017, 05:13 Uhr / Lesedauer: 4 min
Es bleibt nicht viel Platz, um voran zu kommen.

Es bleibt nicht viel Platz, um voran zu kommen.

In Michael Endes Kinderbuch-Klassiker „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ gehört der freundliche Herr Tur Tur zu den Figuren mit dem größten Aha-Effekt. Der weise, alte Mann mit dem Rauschebart hat als Scheinriese die Eigenschaft, von weitem mächtig und gewaltig zu wirken – so furchteinflößend, dass alle Welt rennt, wenn Herr Tur Tur auftaucht. Mit jedem Schritt, den der Scheinriese allerdings näher kommt, schrumpft er optisch auf Normalmaß – und ist einer der liebsten Menschen auf der ganzen Welt.

Wenn das Gegenteil eines Scheinriesen ein Scheinzwerg ist, dann dürfte man die Kluterthöhle wohl mit Fug und Recht als einen solchen bezeichnen. Das Loch, das da in einer mächtigen Felswand zum Vorschein kommt, will so gar nicht zu den Vorstellungen von einer der größten Schau-Höhlen des ganzen Kontinents passen. Mehr als 350 Gänge mit knapp sechs Kilometern Länge sollen sich hinter dieser unscheinbaren Scheinzwergen-Gittertür verbergen? „Wartet es ab“, sagt Guide Jürgen.

Eineinhalbstündiger Erkundungstrip

Jürgen arbeitet seit zwei Jahren in der Kluterthöhle und hat davon jeden einzelnen Tag genossen. Seine Spezialität sind die sogenannten Erlebnistouren, die selbst für Kinder ab acht Jahren geeignet sind. Wobei: „Selbst“ ist in diesem Zusammenhang fast ein bisschen anmaßend, denn eigentlich sind Kinder bei diesen rund eineinhalbstündigen Erkundungstrips gegenüber Erwachsenen klar im Vorteil. Aber davon später mehr.

Nachdem der Höhlen-Guide die Ausrüstung jedes einzelnen Teilnehmers überprüft und für zumindest akzeptabel befunden hat, kann es losgehen. „Heute hat tatsächlich keiner Gummistiefel an“, sagt Jürgen und blickt hinunter auf seinen eigenen roten Funktions-Overall und die festen Schuhe. „Na ja, ich habe damit kein Problem. Meine Füße bleiben trocken.“ Eine Erlebnisführung durch die Kluterthöhle hat mit einer normalen Tour durch die hohen und beleuchteten Gänge ungefähr so viel gemeinsam wie ein englisches Fünftliga-Rugbyspiel an einem regnerischen Sonntagnachmittag mit einer Partie Upperclass-Cricket unter hellen Sonnenschirmen. Beim ersten trägt die Montur deutliche Spuren davon, beim zweiten bleibt die Weste weiß.

Eiskaltes Wasser

In alten Klamotten und Schuhen, mit Helmen auf den Köpfen und Taschenlampen in den Händen macht sich Jürgens Gruppe auf den Weg ins Abenteuer. Ganz bewusst betritt der Guide mit den Teilnehmern nur selten die offiziellen Höhlengänge. Der überwiegende Teil der Tour findet abseits der ausgetretenen Pfade statt – und ist auch gerade deshalb so interessant. Eiskaltes Wasser, das den Weg kreuzt, gehört ebenso zu den Hindernissen wie Strecken, die sich nur kletternd bewältigen lassen. Und damit die Gruppe auf den wenigen geraden Wegen nicht auf abwegige Gedanken kommt, spornt Jürgen sie zum Joggen an. „Wir wollen ja nicht, dass unsere Muskeln wieder kalt werden“, sagt er.

Schon nach kurzer Zeit bittet er zur kurzen Lagebesprechung. „Soll ich euch mal eine ganz enge Stelle zeigen?“, fragt der Gruppenchef. Die Frage ist von rhetorischer Natur. Keiner würde sich die Blöße geben. Jürgen kriecht und robbt voraus durch den schlammig-kalten Boden. „Ich warte auf euch und zeige dann, wie ihr am besten durchkommt“, sagt er noch. Also los geht’s. Ein Besucher nach dem anderen versucht, so gut es geht, eine Flunder zu imitieren – und zieht sich im Zeitlupentempo nach vorne. Das ist spätestens der Moment, an dem sich Erwachsene wünschen, wieder Kind zu sein. Ein bisschen kleiner und schmaler wäre durchaus von Vorteil. Jürgens Ratschlag macht es auch nur geringfügig besser: „Leg deinen Kopf auf die Seite, sonst stößt du mit dem Helm an die Decke.“ Aber es bleibt tatsächlich keiner stecken. Alle kommen kriechend, aber sicher am anderen Ende an.

Mit einer Öllampe ausgestattet

So Höhlen sind der perfekte Ort für Mythenbildung und Schauergeschichten. Auch die beherrscht Jürgen. Er trommelt seine Truppe beisammen, senkt die Stimme und packt die Legende vom alten Brunnenbauer Heinrich Schmidt aus. Schmidt kam auf die Idee, in der Kluterthöhle nach sauberem Wasser zu suchen. Das war 1883 – zu einer Zeit, als die verzweigten Gänge noch unerforscht waren. Mit einer Öllampe ausgestattet geht Schmidt auf Erkundungstour. Allerdings passiert dem Brunnenbauer ein Anfängerfehler: Er unterschätzt Weg und Zeit. Lange bevor er wieder Tageslicht erblickt, erlosch im Berginneren seine Ölfunzel – und mit ihr die Hoffnungen des Brunnenbauers auf eine baldige Rückkehr an die Erdoberfläche.

Während die Gruppe der Geschichte lauscht, sitzt sie mitten im Berg. Bei dem Blick nach links und rechts zu den verzweigten Gängen braucht es noch nicht mal viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie Heinrich Schmidt durch das Gewirr irrt. Mit einem Unterschied: Das Licht ist noch an. Aber nicht mehr lange. Um ganz in das Schmidt-Gefühl einzutauschen, als er sich in acht Tagen und sieben Nächten wieder ins Freie kämpfte, ist klar, was jetzt kommt. „Macht doch eure Lampen aus.“ Okaaaayyy. Lampen aus. Die Gruppe sieht: nichts. Also: gar nichts. Im Sinne von: überhaupt nichts. Komplette, vollständige Schwärze ummantelt die Höhlenforscher. Und was sagt der Guide? „Die nächsten zehn Meter kriechen wir mal ohne Licht voran.“

Viele Millionen Jahre

Die Erfahrung, sich mit gegenseitigem Mutzusprechen tatsächlich für zehn Meter zu überwinden und die Dunkelheit zu besiegen, ist ungemein beeindruckend. Als die Lampen wieder an sind, blickt Jürgen in nichts als stolze Gesichter. Aber es bleibt keine Zeit, sich weiter Gedanken zu machen. Denn der Guide zeigt mit dem ersten Lichtstrahl zur Decke. Wie auf Bestellung hat er die Gruppe an eine der schönsten Stellen der Kluterthöhle geführt: zu einer riesigen Koralle im Querschnitt und weiteren Fossilien, die vor vielen Millionen Jahren entstanden sind. Denn die Höhle ist im Grunde ein mächtiges Korallenriff, über das sich durch Erdplattenbewegungen anderes Gestein geschoben hat.

Da keiner – außer Jürgen – die Orientierung in dem Gänge-Wirrwarr hat, steht die Gruppe wie durch Zauberhand unerwartet und blitzschnell wieder an dem Scheinzwergen-Tor. Jedem einzelnen hält der Guide seine ausgestreckte Hand hin und fordert ein „High Five“ ein. Dreckig sind die Höhlenforscher, nass, klamm, durchgeweicht und total fertig. Richtig werden sie allerdings erst am nächsten Morgen spüren, was sie in der Kluterthöhle getan haben. Wenn sie mit schmerzenden Knien und Muskelkater in den Oberarmen aufwachen, werden sie jede einzelne Engstelle, jedes Wasserloch und jeden rutschigen Anstieg noch einmal durchleben. Doch sie werden dabei lächeln. Mit sich und der Welt zufrieden lächeln.

Mehr Infos:
Kluterthöhle, Gasstraße 10, 58256 Ennepetal