Warum „Heidi“ an Karfreitag verboten ist

Verbotene Filme

Mehr als 700 Filme, darunter Quatsch- und Kinderfilme, dürfen in Deutschland an „stillen Feiertag“ Karfreitag nicht gezeigt werden - warum?

von Imre Grimm

, 30.03.2021, 05:00 Uhr / Lesedauer: 6 min
Etliche Filme dürfen an Karfreitag nicht gezeigt werden.

Etliche Filme dürfen an Karfreitag nicht gezeigt werden. © picture alliance / dpa

Es ist aber auch eine grausame Geschichte: Ein fünfjähriges Waisenmädchen in einer gottverlassenen, zugigen Berghütte. Ohne Strom, ohne fließendes Wasser. Ein mürrischer alter Mann ohne richtigen Namen. Eine karrierewütige Großstadttante, die das Kind zwingt, der gehbehinderten Cousine als Gespielin zu Diensten zu sein.

Nein, entschieden fünf Prüfer der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) im Oktober 2001. Ein unzumutbares Machwerk. Dieser Film sei geeignet, das „religiös sittliche Empfinden an stillen christlichen Feiertagen zu verletzen“. Seither darf „Heidi in den Bergen“ an Karfreitag nicht mehr in öffentlichen Filmvorführungen gezeigt werden. Der Cartoonklassiker von 1975 – eine Gefahr für das seelische Wohl der Nation und seiner schützenswerten Schäflein.

Über 700 Filme stehen auf der schwarzen Liste

Keine Heidi an Karfreitag also. Dem Tag, an dem mehr als zwei Milliarden Christen in aller Welt des Kreuzestodes Jesu Christi gedenken. Die deutschen Feiertagsgesetze zählen ihn zu den schützenswerten Kirchenfesten – ein „stiller Feiertag“ wie Allerheiligen, Buß- und Bettag, der Volkstrauertag und Totensonntag.

Nun ist Karfreitag in diesem Jahr besonders „still“. Dafür sorgt die Coronakrise. Aber auch ohne die Pandemie sind an solchen Feiertagen je nach Bundesland öffentliche Tanzvergnügen, Zirkusse, Märkte, Messen sowie „sportliche und turnerische Veranstaltungen“ untersagt oder nur zu bestimmten Zeiten erlaubt. Karfreitag soll nicht der Tag für unbotmäßigen Ulk und weltanschauliche Verwirrung sein: Stolze 756 Titel umfasst die aktuellste Schwarze Liste der Filme, die die Prüfer der FSK seit 1980 auf den Feiertagsindex gesetzt haben.

Karl May, Bud Spencer und Louis de Funes stehen auf der Liste

Es ist ein Dokument voller Absonderlichkeiten und Widersprüche. Viele indizierte Werke gefährden eher das Geschmacks- und Humorempfinden als die Bereitschaft zu Buße und Einkehr. Verboten sind nicht bloß Horrofilme wie „Nachts, wenn die Zombies schreien“ und „Jungfrau unter Kannibalen“, sondern auch harmlose Heuler wie „Der Dicke in Mexiko“, „Piratensender Powerplay“ mit Thomas Gottschalk und „Didi – der Doppelgänger“ mit Didi Hallervorden.

Dazu kommen Karl-May-Verfilmungen („Durchs wilde Kurdistan“), Schwarzweißklassiker („A Hard Day’s Night“ mit den Beatles, „Mon Oncle“ und „Trafic“ mit Jaques Tati) sowie Kinderfilme wie „Max und Moritz“ und „Kalle Blomquist“. Allein sechs Louis-de-Funès-Filme sind feiertags verboten, dazu „Vier Fäuste gegen Rio“ mit Bud Spencer und Terence Hill wegen „zweier turbulenter Prügel-Szenen“ und die alberne Harald-Juhnke-Klamotte „Schrecken der Kompanie“.

Karfreitag: Diese Filme sind an „stillen Feiertagen“ in Deutschland verboten

Die FSK entscheidet auch über die Eignung von Filmen für „stille Feiertage“. Grundlage ist Artikel 140 des Grundgesetzes, wonach Sonntage und Feiertage gesetzlich geschützt sind. Die Liste nicht „feiertagsfreier“ Filme umfasst in den Jahren 1980 bis 2015 über 700 Titel – nicht wenige davon wirken aus heutiger Sicht eher grotesk. Ein Auszug (in Klammern steht das Jahr der FSK-Sperre):

  • Schnapsnase und Schlappohr (1980)
  • Der Dicke in Mexiko (1980)
  • Das Leben des Brian (1980)
  • Der Kurpfuscher und seine fixen Töchter (1980)
  • Louis der Spagettikoch (1981)
  • Käpt’n Blackbeard’s Spuk-Kaschemme (1981)
  • Didi Hallervorden – Alles im Eimer (1981)
  • Die Feuerzangenbowle (1981)
  • Piratensender Powerplay (1981)
  • Durchs wilde Kurdistan (1983)
  • Sunshine Reggae auf Ibiza (1983)
  • A Hard Day’s Night (1984)
  • Max und Moritz (1985)
  • Top Gun (1986)
  • Police Academy (1988)
  • Harold und Maude (1988)
  • Ghostbusters (1990)
  • Reservoir Dogs (1992)
  • Lotta zieht um (1995)
  • Meisterdetektiv Blomquist (1995)
  • Heidi in den Bergen (2001)
  • Jackass – The Movie (2003)
  • A Nightmare on Elm Street (2010)
  • Trafic (Jaques Tati) (2014)

Tanzverbot gab es schon im Ersten Weltkrieg

Basis ist das Jugendschutzgesetz sowie ein eigenes Regelwerk der FSK, das im Kern von 1951 stammt. Aus einer Zeit also, als gestrenge Pastoren allzu ausschweifige „öffentliche Lustbarkeiten“ argwöhnisch zu unterbinden versuchten. Als „Ulk“ und Albernheit noch als Provokation galten und jeder, der humormäßig aus der Reihe tanzte, als Bürgerschreck verschrien war. Im heutigen Alltag hat die Liste erheblich an Relevanz eingebüßt. Zumal sie nur für „öffentliche Aufführungen“ gilt, nicht aber für TV oder Streamingdienste. Das liegt daran, dass 1951 nur das Kino Relevanz als Abspielort für Filme hatte. Aber: Sie gilt.

Die Tradition des „Tanzverbotes“ freilich ist viel älter: Sittlich motivierte Tanzverbote gibt es seit Jahrhunderten in vielen Kulturen. Der Film „Footlose“ von 1984 basiert lose auf einem ganzjährigen Tanzverbot in der Kleinstadt Elmore City in Oklahoma, das seit 1861 galt. Erst im Jahr 1980 begehrten Jugendliche dagegen auf – die Sache wurde zum Kulturkampf zwischen Teenagern und der erzkonservativen Kirchengemeinde. Als Elmore City nach 120 Jahren seine erste Tanzparty erlebte, beschäftigte das Thema halb Amerika.

Tanzverbot im Krieg

In Deutschland galt im Ersten Weltkrieg ein Tanzverbot, das erst zu Silvester 1918 aufgehoben wurde. Im Dritten Reich verhängte das nationalsozialistische Regime „dem Ernst der Lage entsprechend“ mit Beginn des Polenfeldzugs 1939 ein Tanzverbot; im Verlauf des Krieges wurde es mehrfach gelockert, weil Tanzvergnügen für Soldaten als „kriegswichtig für die Kampfkraft“ eingeschätzt wurden. Swingtanz blieb verboten, die „Swing-Jugend“ traf sich zu konspirativen Treffen und wurde von der NSDAP als oppositionelle Jugendkultur eingeschätzt und streng verfolgt.

Die Humortoleranz der FSK ist gestiegen

Bei der aktuellen „Feiertagsfreigabe“ der Gegenwart gehe es gar nicht um explizite Gewaltdarstellungen, sondern mögliche Verunglimpfung oder „fragwürdige ethische Werte“, heißt es bei der FSK. Sie gelte nur für Kinos, nicht aber für Fernsehen, wo eigene Freigaberegeln gelten. Auch Streamingdienste müssen „Heidi“ nicht 24 Stunden sperren.

In den fünfziger Jahren seien noch 60 Prozent aller geprüften Filme als „feiertagsuntauglich“ bewertet worden. Zwischen 200 und 2015 war es nur noch ein Prozent. Tatsächlich nimmt die Zahl indizierter Titel stark ab. 1980 waren es noch 91, 1991 dann 25, 2002 immerhin noch zehn und 2014 vier (darunter das deutsch-israelische Demenzdrama „Am Ende ein Fest“). Die Humortoleranz der FSK ist gestiegen.

Und: „Die Bedeutung der Feiertage in unserer Gesellschaft hat sich mittlerweile erheblich gewandelt“, sagte Stefan Linz von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft vor einigen Jahren. Aber: Seit 1980 gab es kein Jahr ohne neue Verbote.

Sind die Verbote an Karfreitag noch zeitgemäß?

Umso drängender die Frage, ob Tanzverbot und Filmstopp noch zeitgemäß sind. Darf ein Gremium nach wachsweichen Kriterien aus moralischen Erwägungen erwachsenen Menschen die öffentliche Ansicht einzelner Filme wegen eines Bauchgefühls untersagen?

Oder bedarf es gerade in Zeiten erodierender Religiosität und heftiger Debatten um die Zukunft des christlichen Abendlandes institutioneller Leitplanken, die der wachsenden kulturellen Unverbindlichkeit etwas entgegensetzen? Das Problem wirkt winzig im Vergleich zu den gewaltigen Einschränkungen von Grundrechten, die die Welt in Coronazeiten erlebt. Aber es geht im Kern um einen Kulturkampf. Wer entscheidet, was geht?

Weniger als die Hälfte der Deutschen bezeichnen sich als religiös

Nur noch 43 Prozent der Deutschen bezeichnen sich als religiös (47 im Westen, 25 im Osten). Knapp 30 Prozent gehören jeweils einer der beiden großen Konfessionen an, Tendenz sinkend. Aber sind Tanz- und Filmverbote geeignete Mittel, die Abkehr von der Religion zu bremsen? Ist es überhaupt Aufgabe eines säkularen Staates, mit Gesetzen die religiöse Inbrunst seiner Bürger zu steuern?

Stefan Muckel vom Institut für Kirchenrecht an der Uni Köln spricht von einer „verfassungsrechtlichen Situation, die der Religion freundlich gegenübersteht“. Sie resultiere „daraus, dass man sich in Deutschland über Jahrhunderte hinweg und schlimmer als in jedem anderen Land aus Gründen der Religion bekämpft hat.“ Die Nähe zwischen Staat und Kirche ist also eine politisch gewollte Besänftigungsmaßnahme mit langer Tradition.

Gefährdet Bill Murray das christliche Abendland?

Aber ist das christliche Abendland in Gefahr, weil Bill Murray in „Ghostbusters“ übernatürliche Wesen jagt und „Police Academy“ das Vertrauen in staatliche Sicherheitsorgane untergräbt? Ist die Astrid-Lindgren-Verfilmung „Lotta zieht um“ eine unzumutbare Parabel auf Entwurzelung und Fremdheit in der modernen Gesellschaft?

Warum ist Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“ enthalten, nicht aber „Pulp Fiction“? Ist „Dumm und Dümmerer 2“ (auf der Liste) feiertagsuntauglicher als „Dumm und Dümmerer 1“ (nicht auf der Liste)? Kein Sex, keine Gewalt, kein Blödsinn - ist das realistisch?

Zu den Gegnern des bigotten Aufführungsverbotes gehört Patrick Breyer von der Piratenpartei, der inzwischen im Europaparlament sitzt. „Dass Kinderfilme, Klassiker, Satire und Kritik auf einem Feiertagsindex stehen, verschlägt mir den Atem“, sagte er vor einigen Jahren. „Diese Zensur ist wirklichkeitsfremd und gehört dringend abgeschafft. So lange die Feiertagsruhe nicht öffentlich wahrnehmbar gestört wird, haben Staat und Kirche kein Recht, uns bei der Gestaltung arbeitsfreier Sonn- und Feiertage zu bevormunden.“

FSK findet selber, dass Regelung eventuell nicht zeitgemäß ist

Die FSK gibt selber zu, dass ein Feiertagsverbot mancher Filme nach heutigem Verständnis schwer nachvollziehbar ist. Auf ihrer Webseite heißt es: „Sicherlich diskussionswürdig ist, inwieweit diese Regelung insgesamt noch als zeitgemäß empfunden wird. Hier wären ein gesellschaftlicher Diskurs und der Gesetzgeber gefragt.“

Natürlich ist die Liste primär ein putziger Anachronismus, ähnlich wie die Unzahl an faktisch überholten US-Gesetzen, wonach Frauen in Florida nicht unter Trockenhauben einschlafen und Männer in Kentucky nicht ohne Begleitung ihrer Gattin Hüte kaufen dürfen. Manche Behörde aber nimmt die Sache durchaus ernst:

„Religionsfrei im Revier“ zeigt „Das Leben des Brian“

2014 verhängte die Stadt Bochum ein 300-Euro-Bußgeld gegen die Initiative „Religionsfrei im Revier“ des 65-jährigen Agnostikers Martin Budich. Seit 2012 zeigt er an Karfreitag Monty Pythons Jesus-Satire „Das Leben des Brian“ als vorösterliche Provokation. Man respektiere, „dass Christen an diesem Tag der Ermordung ihres Religionsstifters gedenken“, sagte er damals der „WAZ“ – nicht aber, dass auch Nichtgläubige zu „depressivem Verhalten genötigt“ würden. Budich klagte gegen den Bescheid – und musste 100 Euro zahlen.

2011 untersagte die nordrhein-westfälische Regierungspräsidentin Annemarie Lütkes (Grüne) die für Karfreitag geplante Premiere von Giacomo Puccinis Oper „Madame Butterfly“ im Essener Aalto-Theater.

Deutschland – ein Partyflickenteppich

In diesem Jahr ist ohnehin alles anders: Corona macht öffentliche Veranstaltungen insgesamt unmöglich. Aber auch beim Thema Tanzverbot an Karfreitag zeigen sich die Grenzen des Föderalismus‘ in Deutschland. Mehrere Bundesländer verkürzten zuletzt das Tanz- und Filmverbot an den stillen Tagen, darunter Schleswig-Holstein, Bremen und Baden-Württemberg.

An Karfreitag jedoch galt das Verbot überall ganztags – mit Ausnahme von Berlin (4 bis 21 Uhr), Bremen (6 bis 21 Uhr) und Hamburg (2 bis 24 Uhr). Trinken erlaubt, Tanzen nicht. Die Sache ist komplex. In Niedersachsen gilt zum Beispiel an Allerseelen (2. November) ein Tanzverbot von 5 bis 24 Uhr – aber nur in Gemeinden mit mindestens 40 Prozent katholischer Bevölkerung.

Zweifellos widerspricht vieles auf der Filmliste nicht mehr dem sittlichen Empfinden der deutschen Gesellschaft im Jahre 2020 an hohen Feiertagen. Dafür aber, dass die Politik grundsätzlich und mehrheitlich vom Tanz- und Aufführungsverbot ablassen will, gibt es keine Anzeichen. Dabei täte manchem Zuschauer in Krisenzeiten wie diesem ein bisschen Ablenkung durch Blödsinn vielleicht ganz gut. Immerhin: Es gibt ja noch Netflix.

Das ist die FSK:

Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) mit Sitz in Wiesbaden entscheidet auf der Basis des Jugendschutzgesetzes und eigener Grundsätze über die Altersfreigabe von Filmen und Computerspielen. Die 250 ehrenamtliche Prüfer – darunter Lehrer, Psychologen, Journalisten, Studenten, Filmhistoriker, Richter und Staatsanwälte – entscheiden, ob ein Film für bestimmte Altersstufen gesperrt wird, weil er „geeignet ist, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen“.

Sie haben im Jahr 2015 exakt 10 580 Freigaben erteilt. Über jeden Film stimmen fünf Prüfer ab. Nicht nur Kinobetreiber, sondern auch Fernsehsender sind von den FSK-Freigaben betroffen. Filme „ab 18“ dürfen nur zwischen 23 und 6 Uhr morgens gesendet werden, Filme „ab 16“ zwischen 22 und 6 Uhr morgens. Bei Filmen „ab 12“ ist bei der Sendezeit „dem Wohl jüngerer Kinder Rechnung zu tragen“. Seit Jahren gibt es Kritik, dass der Sprung von „FSK 6“ zu „FSK 12“ zu groß ist – auch mit Blick auf die gestiegene Medienkompetenz heutiger Schüler.