Vor 50 Jahren: Acht Tote bei Bahnunglück in Marl-Sinsen Ulrich Weidlich saß in einem Waggon

 Bahnunglück in Sinsen vor 50 Jahren: Ulrich Weidlich saß mit im Zug
Lesezeit

Der 5. Oktober 1973 war ein Freitag. An diesem Nachmittag stieg der 17-jährige Ulrich Weidlich in seiner Heimatstadt Diepholz in den D-Zug von Flensburg nach Düsseldorf. „Von einer Stadt namens Marl hatte ich bis dahin noch nie gehört“ erinnert sich der damals junge Niedersachse heute. Das sollte sich an diesem Schreckenstag ändern, denn um 18.10 Uhr verunglückte der Schnellzug im Bereich des Bahnhofs Marl-Sinsen. Acht Menschen starben bei der Zugkatastrophe vor 50 Jahren, 61 wurden teils schwer verletzt.

Heute ist Marl die Heimatstadt des 67-Jährigen, der nach einem Chemie- und Verfahrenstechnikstudium in Münster und Dortmund im Jahr 1985 mit Doktorgrad bei den Chemischen Werken Hüls anfing und im Chemiepark bis zu seinem Ruhestand 2016 in leitender Position arbeitete. „Ich wollte damals in den Herbstferien die Familie meines Onkels in Ratingen besuchen“, erinnert sich Weidlich: „Ich stieg vorne direkt hinter der Lok ein, doch der Zug war voller junger Soldaten auf Wochenendheimfahrt, also lief ich durch den Zug nach hinten und fand erst in einem der letzten Waggons eine Sitzplatz, das war mein großes Glück und hat vielleicht mein Leben gerettet.“

Ulrich Weidlich steht vor der Eisenbahnbrücke über die Halterner Straße. Hier war vor 50 Jahren der Brennpunkt des schweren Eisenbahnunglücks.
Ulrich Weidlich steht vor der Eisenbahnbrücke über die Halterner Straße. Hier war vor 50 Jahren der Brennpunkt des schweren Eisenbahnunglücks. © Thomas Brysch

Der junge Gymnasialschüler der 13. Klasse freute sich schon auf die Fahrt durch das Ruhrgebiet. „Ich kam ja vom Land, deshalb hat mit die Schwerindustrie mit Zechen, Stahlwerken und Kokereien schon immer fasziniert“, so Weidlich. „Dampf, Rauch, Staub und Lärm - ich fand das spannend.“ Um kurz nach 18 Uhr war es mit der Vorfreude vorbei. „Es gab einen schweren Schlag, ich rutschte aus meinem Sitz und meine Reisetasche fiel mir von oben auf die Knie“, erinnert sich Weidlich: „Dann gab es noch einen Schlag und der Waggon stand.“

Am Tag nach dem Unglück werden auf der Bahnbrücke die ineinander verkeilten Waggons mit Kränen getrennt und geborgen.
Am Tag nach dem Unglück werden auf der Bahnbrücke die ineinander verkeilten Waggons mit Kränen getrennt und geborgen. © MZ-Archiv (Pölking)

Fehler im Stellwerk hatte das Unglück ausgelöst

Die Ereignisse von damals sind vielen älteren Marlerinnen und Marlern noch heute in Erinnerung: Der D-Zug raste auf Höhe der Eisenbahnbrücke über die Halterner Straße nach versuchter Bremsung mit immer noch 80 km/h in eine stehende schwere Güterzugdampflokomotive, die kippte und querschlug. Zudem fuhr auf dem Gegengleis ein schneller Güterzug in die Unfallstelle hinein. Zahlreiche Waggons verkeilten sich ineinander, eine E-Lok stürzte den Bahndamm hinab. Ein Fehler im Stellwerk hatte das Unglück ausgelöst.

Den nötigen Sicherheitsabstand zu den Gleisen hält Ulrich Weidlich auch auf dem Bahndamm an der Eisenbahnbrücke Halterner Straße. Im Hintergrund ist der Bahnhof Sinsen zu sehen.
Den nötigen Sicherheitsabstand zu den Gleisen hält Ulrich Weidlich auch auf dem Bahndamm an der Eisenbahnbrücke Halterner Straße. Im Hintergrund ist der Bahnhof Sinsen zu sehen. © Thomas Brysch

Der hintere Waggon, in dem Ulrich Weidlich saß, stand tatsächlich noch auf dem Gleis, nahezu unbeschädigt. Die jungen Fahrgäste blieben ruhig. „Reiß dich zusammen“, war auch der erste Gedanke des 17-Jährigen. Vom Chaos des eigentlichen Unfallorts war wenig zu sehen. Dichter Rauch aus dem Kessel der Dampflok stand in der Luft, die Dämmerung war fortgeschritten. „Wir sahen nur den Rauch und fürchteten einen Brand, also haben wir den Waggon verlassen und standen schließlich am Rand der Gleise, um uns herum hingen die Fetzen der zerstörten Oberleitung“, so Ulrich Weidling.

Unglücksstelle unter Flutlicht - schrecklicher Anblick

„Ich habe zunächst gar nicht realisiert, was passiert ist, stand wie im Tunnel“, erinnert sich Weidling: „An einem Bahngebäude sah ich das Schild ‚Marl-Sinsen‘, damals konnte ich mit dem Namen absolut nichts anfangen.“ Blaulicht näherte sich schließlich der Gruppe, Sanitäter boten Erste Hilfe und eine Fahrt ins Krankenhaus an. „Ich wollte einfach nur weiter“, sagt Weidling heute. So ging es mit dem DRK-Buli nach Recklinghausen. „An der Bahnbrücke Halterner Straße habe ich dann das Unfall-Chaos mit dem verkeilten, hochkant stehenden Waggons und die umgestürzte Dampflok gesehen, die ganze Unfallstelle stand unter Flutlicht, es war ein gespenstischer, schrecklicher Anblick.“

Lokomotiven und Waggons wurden bei dem Unglück teils total zerstört.
Lokomotiven und Waggons wurden bei dem Unglück teils total zerstört. © MZ-Archiv (Pölking)

Mit dem Münzfernsprecher nahm Ulrich Weidling in Recklinghausen Kontakt zu seinen Eltern in Diepholz auf: „Die wussten noch gar nichts vom Unglück und waren einfach nur heilfroh“, sagt Weidling. Mit mehrstündiger Verspätung kam der 17-jährige in Ratingen an. „Wo kommst du denn jetzt her“, war die erste Frage des ahnungslosen Onkels.

Bei der Familie des Onkels in Ratingen sah Weidling in den Spätnachrichten des Fernsehens schließlich den Bericht vom Bahnunglück in Sinsen: „Erst in diesem Augenblich habe ich wirklich begriffen, was passiert ist, alles, was mich bis dahin aufrecht gehalten hatte, fiel plötzlich von mir ab, ich verlor die Fassung und brach in Tränen aus.“

Die verkeilten Waggons haben sich durch das Unglück hoch aufgerichtet.
Die verkeilten Waggons haben sich durch das Unglück hoch aufgerichtet. © MZ-Archiv (Pölking)

Heute kann Ulrich Weidling frei und unbefangen über das Zugunglück sprechen. Auch ein Besuch der Unglücksstelle in Sinsen löst bei dem Alt-Marler keine traumatischen Erinnerungen aus: „Ich bin ja ohne Verletzung davongekommen, hatte nur einen blauen Fleck von der herabstürzenden Reisetasche“, sagt Weidling: „Vielleicht liegt es auch daran, das ich damals keine Toten oder Schwerverletzten gesehen habe“, vermutet Weidling. Allerdings: „Berichte über Eisenbahnunglücke im Fernsehen fassen mich an, am stärksten war das wohl beim ICE-Unglück von Eschede1998 mit 101 Toten der Fall.“

Einige der damals "Silberlinge" genannten Waggons des D-Zugs wurden bei dem Bahnunglück in Sinsen schwer beschädigt.
Einige der damals "Silberlinge" genannten Waggons des D-Zugs wurden bei dem Bahnunglück in Sinsen schwer beschädigt. © MZ-Archiv (Pölking)

Zug fährt Ulrich Weidling heute eher selten, aber wenn, dann ohne Stress: „Das einzige, was ich bis heute nicht haben kann, ist eine enge Zugbegegnung bei hoher Fahrt“, so Weidling: „Wenn dann die Scheiben knallen, bekomme ich einen Schreck!“

Evonik-Konzernumbau betrifft in Marl bis zu 3000 Beschäftigte: Das sagt der Betriebsrat

Evonik baut Sparten um: Tausende Beschäftigte betroffen - auch in Marl

Eltern in großer Sorge: Heinrich-Kielhorn-Schule kündigt Demonstration für Sanierung an