Hinter Alissa Springer aus Recklinghausen liegt eine schwierige Zeit: Jahrelang wird die heute 20-Jährige in der Schule wegen ihres Übergewichts gemobbt und verhöhnt, bis sie sich nicht mehr zum Unterricht traut und ohne ihre Mutter kaum noch das Haus verlässt. Wegen des Mobbings beginnt sie mehr und mehr abzunehmen – und landet im nächsten Teufelskreis.
Wir treffen Alissa Springer in der Wohnung ihrer Eltern in Recklinghausen-Ost. Während des Gesprächs wippt die junge Frau unruhig mit den Beinen. Was die 20-Jährige erzählt, kostet Überwindung.
Sie habe schon immer etwas mehr gewogen als ihre Mitmenschen, sagt die angehende Ergotherapeutin. Mit dem Wechsel von der Grundschule auf die Realschule sei sie zum ersten Mal wegen ihres Übergewichts gemobbt worden. „Es fing langsam damit an, dass ich geschubst oder mir gesagt wurde ‚hör auf zu essen, du bist fett genug‘“, erinnert sich Alissa Springer, die zu diesem Zeitpunkt 164 Kilogramm wiegt.

Mit der Zeit steigert sich das Mobbing: Die Beleidigungen seien mehr und mehr unter die Gürtellinie gegangen und irgendwann sei sie, so schildert es die 20-Jährige, mit Essen beworfen und die Treppen heruntergestoßen worden. Die Lehrer hätten laut Alissa Springer bei den täglichen Hänseleien zugesehen.
Mobbing hat psychische Folgen
„Es war zeitweise so schlimm, dass ich nicht mehr zur Schule gehen wollte, dass ich im Auto davor immer so doll geweint habe, dass meine Mutter mich wieder mitnehmen musste“, blickt sie zurück. Während Alissa Springer von dieser Zeit erzählt, zupft sie an den Ärmeln ihrer Sweatshirtjacke. Man merkt, wie wütend, aber auch traurig sie die Erinnerungen machen.
Durch das jahrelange Mobbing ihrer Mitschüler wird die damals Jugendliche psychisch krank, Therapeuten diagnostizieren eine Borderline-Störung. Immer wieder sei sie in Behandlung gewesen, habe angefangen, sich selbst zu verletzen und sich mehr und mehr zu Hause verschanzt.
Ohne ihre Mama, Uschi Springer, geht sie zu dieser Zeit fast nirgendwo hin. Alleine in die Stadt zu fahren war undenkbar, zu groß sei ihre Angst gewesen, größeren Gruppen von Menschen zu begegnen.
„Das war schon heftig, man ist gegen nichts angekommen“, sagt Uschi Springer. Ihre Tochter leiden zu sehen und nichts tun zu können, habe auch sie stark belastet.

Sport wird zum Vater-Tochter-Ritual
2019, Alissa ist zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, erleidet ihr Vater einen Herzinfarkt. Doch dieser Schicksalsschlag scheint der Jugendlichen rückblickend Kraft gegeben zu haben. Denn nach seiner Diagnose meldet ihr Vater sich im Fitnessstudio an, geht jeden zweiten Tag trainieren. „Und da habe ich mir gedacht, warum mache ich nicht mit?“, erzählt Alissa Springer.
Anfangs habe sie sich geschämt, ins Fitnessstudio zu gehen und ihren Körper in weiten Sweatshirts versteckt. Doch nach und nach sei das gemeinsame Trainieren zu einer Art Ritual für das Vater-Tochter-Gespann geworden. „Wir haben uns immer einen Spaß daraus gemacht und uns gegenseitig gepusht.“ Ergänzend zum Training habe Alissa Springer damit begonnen, ihre Kalorien in Fitness-Apps zu tracken.
„Endlich schöne Klamotten kaufen“
Und so beginnen plötzlich die Kilos zu purzeln. Mit den ersten sichtbaren Erfolgen sei dann auch das erste positive Feedback aus ihrem Umfeld gekommen. „Plötzlich habe ich dazugehört und wurde auch mal auf Partys eingeladen“, sagt die Auszubildende. Auch Shoppen habe endlich Spaß gemacht. „Ich konnte mir endlich schöne Klamotten kaufen, in großen Größen gab es das nicht.“
Die positiven Kommentare zu ihrem neuen Aussehen beflügeln die 20-Jährige, aber zeitgleich hätten sie auch zum Nachdenken gebracht. „Nur weil ich jetzt dünn bin, beachten mich die Leute. Dabei bin ich immer noch derselbe Mensch“, sagt Alissa Springer und wirkt wütend.
Aus eigener Disziplin und ohne Magenband-Operation, wie Alissa Springer und ihre Mutter stolz betonen, schafft die junge Frau Beachtliches: In weniger als zwei Jahren nimmt sie 110 Kilogramm ab.

Kampf mit der Krankenkasse
Doch durch den radikalen Gewichtsverlust hat ihre Haut an Spannung verloren. Bei einer Körpergröße von 1,78 m wiegt Alissa Springer derzeit etwa 54 Kilo. An Rücken, Beinen und Bauch hängen Hautlappen. Und zusätzlich zu den überschüssigen Kilos hat sie auch ihre Oberweite verloren. „Laut den Gutachtern habe ich Körbchengröße Minus A“, sagt Alissa Springer verlegen. Immerhin: Nach einem langen Kampf mit der Krankenkasse sei die Operation der überschüssigen Haut an Bauch und Beinen übernommen worden. 3,5 Kilo Haut hätten die Ärzte allein an ihrem Bauch entfernt, erzählt die junge Recklinghäuserin. Einen Brustaufbau und die Abnahme der Hautlappen am Rücken wolle die Kasse jedoch nicht bewilligen.
Was so schön schien, habe neue Schattenseiten in ihr Leben gebracht. Alissa Springer erzählt, dass sie sich besonders für ihre nicht mehr vorhandene Oberweite schämt. „Ich war im Sommer nicht ein Mal im Freibad und auch Jungs möchte ich so nicht kennenlernen.“ Zurzeit setze ihre Familie alles daran, einen Gutachter zu finden, der den Brustaufbau befürwortet.
Aber noch etwas belaste sie. Denn: Einmal angefangen, habe Alissa mit dem Abnehmen nicht aufhören können. Aktuell leide die junge Recklinghäuserin an einer Essstörung, die sie mithilfe von Therapeuten und ihrer Familie zu behandeln versucht. Während Alissa Springer von ihrer Essstörung erzählt, fließen die Tränen. „Mobbing löst so schlimme Sachen aus.“ Aber genau deshalb wolle sie ihre Geschichte erzählen: „Damit anderen so etwas nicht passiert.“
Leiden auch Sie unter einer Essstörung? Eine erste Hilfe finden Sie unter anderem bei der Telefonseelsorge. Ansprechpartner sind zu erreichen unter Tel. 08001110111, Tel. 08001110222 oder Tel. 116123. Die Frauenberatungsstelle Recklinghausen bietet eine spezielle Beratung bei Essstörungen an. Der Kontakt hier: Tel. 02361/15457.
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