Von der Krise zum Krieg? Die Nato blickt besorgt auf Putins Machtspiele

Belarus

Russlands Präsident Wladimir Putin stellt sich demonstrativ hinter den Diktator von Belarus, Alexander Lukaschenko. Zugleich registrieren die USA „ungewöhnliche Aktivitäten der russischen Armee“.

von Matthias Koch

, 13.11.2021, 04:35 Uhr / Lesedauer: 5 min
Wenige Tage nachdem Alexander Lukaschenko (l.), Präsident von Belarus, ein zwischen zwei EU-Staaten verkehrendes Zivilflugzeug zur Landung in Minsk gezwungen hatte, um einen seiner Kritiker verhaften zu können, gewährte Wladimir Putin (r.), Präsident von Russland, ihm einen Staatskredit von 500 Millionen Euro.

Wenige Tage nachdem Alexander Lukaschenko (l.), Präsident von Belarus, ein zwischen zwei EU-Staaten verkehrendes Zivilflugzeug zur Landung in Minsk gezwungen hatte, um einen seiner Kritiker verhaften zu können, gewährte Wladimir Putin (r.), Präsident von Russland, ihm einen Staatskredit von 500 Millionen Euro. © picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin

Im Brüsseler Nato-Hauptquartier macht sich in diesen Novembertagen eine Düsternis breit, wie man sie im westlichen Bündnis schon lange nicht mehr erlebt hat.

Internen Analysen zufolge könnten sich die aktuellen Krisen rund um Belarus, die baltischen Staaten und die Ukraine zu einem destabilisierenden Ganzen addieren - und den Frieden in Europa stärker gefährden als alle früheren Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg.

Russland setzt auf militärische Macht statt Zusammenarbeit

Bereits im Jahr 2014, heißt es bei der Nato, habe Russland auf der Krim der Welt vorgeführt, dass es bereit und in der Lage sei, Grenzen in Europa zu verschieben. Seither habe Putin jedes Jahr auf eine Steigerung seiner militärischen Macht gesetzt, statt sein Land für eine stärkere politische und wirtschaftliche Kooperation mit dem Westen zu öffnen.

„Leider lässt diese Tendenz bei ihm nicht nach“, sagte ein Nato-Beamter diese Woche in Brüssel. „Sie wird im Gegenteil immer stärker.“ Das Verhältnis zu Moskau sei inzwischen schlechter als in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs.

Am kommenden Dienstag wollen die Außen- und Verteidigungsminister der EU in Brüssel über die Lage beraten. Die Verteidigungsminister der Nato-Staaten Estland, Lettland und Litauen warnten bereits vorab mit Blick auf die von Belarus angefachte Flüchtlingskrise in einer offiziellen Erklärung vor „Provokationen und schwerwiegenden Vorfällen, die auch auf den militärischen Bereich übergreifen könnten“. Intern heißt es bei der Nato, genau darum gehe es Putin: Das Ziel seien Chaos und Verunsicherung im Westen.

Langstreckenbomber als Antwort auf Merkel

Allein in diesem Herbst gab es aus Sicht der Nato drei besorgniserregende Signale aus Moskau.

1. Russland zeigt kein Interesse mehr an der Pflege eines diplomatischen Drahts zur Nato. Im Nato-Russland-Rat gab es schon seit Langem keine Gespräche mehr. Inzwischen hat Putin auch den letzten formalen Kontakt gekappt: Russland hat seine Vertretung beim Hauptquartier der Allianz geschlossen, mit Wirkung zum 1. November. Säuerlich höhne Putins Außenminister Sergej Lawrow: „Wenn die Nato einen Grund hat, sich an uns zu wenden: Wir haben ja einen Botschafter in Belgien.“

2. Putin erschien Ende Oktober nicht zum G-20-Gipfel in Rom, von dem sich EU und USA Signale für einen ökonomischen, politischen und nicht zuletzt auch psychologischen Neustart im Zusammenwirken aller Weltmächte gegen Corona erhofft hatten. Putin blieb auch dem Weltklimagipfel in Glasgow fern. Zugleich jedoch demonstrierte Russland auf dem militärischen Feld seine Bereitschaft zu globalen Anstrengungen: In einem ungewöhnlichen russisch-chinesischen Marinemanöver im Oktober wurde der G-20-Staat Japan eingekreist.

3. Als jüngstes schlechtes Zeichen sehen Nato-Beamte die „eiskalte Reaktion“ des russischen Staatschefs auf die Bitten von Kanzlerin Angela Merkel, in der Belarus-Krise auf eine Entspannung hinzuwirken. Merkel hatte Putin in einem Telefongespräch aufgefordert, den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko in seinen Schleuseraktivitäten zu bremsen. Lukaschenko lässt derzeit mit Duldung Putins Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten per Flugzeug nach Minsk reisen, um sie dann an die Grenze Polens zu dirigieren, wo sie zum illegalen Grenzübertritt Richtung EU ermuntert werden.

Russische Bomber patrouillieren über Belarus

Russland reagierte auf Merkel mit militärischen Machtdemonstrationen. Zwei russische Bomber vom Typ Tu-22M3 starteten zu „Patrouillenflügen“ über Belarus - und betonten auf diese Art das politische Miteinander zwischen Moskau und Minsk. Man habe die „Interoperabilität“ russischer und belarussischer Kommandostrukturen testen wollen, hieß es aus dem russischen Verteidigungsministerium - das eilends auch Fotos und Videos vom Einsatz der Bomber an die westlichen Medien weiter reichte. Die Maschinen können auch Atombomben tragen, mit zweifacher Schallgeschwindigkeit.

Am Donnerstag setzten Moskau und Minsk noch eins drauf: Russische Kampfflugzeuge vom Typ Tu-160 übten in Belarus das Abwerfen von Bomben. Lukaschenko sagte mit Blick auf Kritiker dieser Manöver: „Lasst sie schreien und kreischen. Ja, das sind atomwaffenfähige Kampfbomber, aber wir haben keine andere Wahl.“

USA warnen Moskau vor „schwerwiegendem Fehler“

Zur Unruhe im Bündnis tragen in diesen Tagen auch „ungewöhnliche Aktivitäten der russischen Armee“ an der Grenze zur Ukraine bei, die von den USA beobachtet wurden. In Washington warnte US-Außenminister Antony Blinken Russland davor, einen „schwerwiegenden Fehler“ zu begehen.

Russland hatte bereits im Frühjahr bei einem massiven Truppenaufmarsch Zehntausende Soldaten, schwere Militärausrüstung und sogar Feldküchen und Lazarette nahe der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Der neue US-Präsident Joe Biden beorderte damals in einer öffentlich kaum wahrgenommenen Geste schwere amerikanische Kampfbomber aus Texas nach Norwegen. Zudem entsandte er seinen Verteidigungsminister Lloyd Austin zu einem Besuch - in Präsenz - im amerikanischen Kommandozentrale für Europa in Stuttgart. Zeitgleich flogen Nato-Aufklärer und Drohnen in niedriger Höhe einen Einsatz nach dem anderen. „Summen und brummen lassen können wir es auch“, heißt es in Brüssel. Wenig später verringerte sich damals wieder die Zahl der von Russland zusammengezogenen Truppen.

Unklar ist, ob es auch jetzt nur wieder um einen in Militärkreisen durchaus üblichen „test of nerves“ geht oder um mehr. Fest steht jedenfalls, dass in der aktuellen Krise in der Ukraine ebenso wie in Polen die Nerven bereits gefährlich blank liegen.

Genau dies scheint Putin zu gefallen.

„Die EU nimmt Abschied von ihren Idealen“

Polnische Grenztruppen könnten vielleicht schon bald dazu verleitet werden, Schüsse auf Flüchtlinge abzugeben. Nach Einschätzung von Analysten bei der Nato läge dies am Ende im russischen Interesse: Polen und mit ihm die gesamte EU wären dann moralisch blamiert. Die Menschenrechtspolitik vergangener Jahre, nicht zuletzt gegenüber Russland, fiele in sich zusammen.

An der belarussisch-polnischen Grenze, stichelte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow dieser Tage, nehme die EU jetzt gerade „Abschied von ihren eigenen Idealen“. Genau diese Botschaft will Moskau jetzt allen reinreiben: der eigenen Bevölkerung, die wieder etwas mehr zusammenrücken soll um Putin, aber auch den Europäern, die man auf diese Weise zu einer heillosen politischen Prügelei untereinander anstiften will.

Unterm Strich könnten, wie bei der ebenfalls von Moskau veranlassten Massenflucht der Syrer im Jahr 2015, quer durch die EU Systemzweifel ebenso wachsen wie die Hinwendung zu rechten Pro-Putin-Parteien wie der AfD in Deutschland oder Rassemblement National von Marine Le Pen in Frankreich. Alles, was dazu dient, die EU zu stören, die Gemeinschaft zu spalten und allerorten wieder den Wunsch nach dem starken Mann wachsen zu lassen, ist im Interesse Putins.

Man müsse ihm nicht unbedingt Kriegslust unterstellen, sagen Russland-Kenner. Schon aus sehr schlichten machtpolitischen wie ökonomischen Gründen setzt sich der Russe lieber mit kleineren einzelnen Staaten zu Verhandlungen zusammen als mit einem Staatenverbund mit 447 Millionen Einwohnern. Hinzu komme sein stetiges Bedürfnis nach Ablenkung von den Probleme im Inneren Russlands, wo die Kluft zwischen wenigen Reichen und einer an Kaufkraft verlierenden Masse immer tiefer werde.

„Die Ukraine hat Pläne für einen Blitzkrieg“

Die Ukraine gerät durch Putins Machtspiele von gleich zwei Seiten gleichzeitig unter Druck wie nie. Wegen der Hinweise auf russische Truppenbewegungen erhöhte sie ihre Alarmbereitschaft in der östlichen, von prorussischen Rebellen kontrollierten Region Donbass. Und wegen ihrer Angst vor Flüchtlingsströmen verlegte sie am Donnerstag 8500 Soldaten und Polizisten sowie 15 Hubschrauber nach Norden an die Grenze zu Belarus.

Auch die Ukraine könnte in dieser hoch angespannten neuen Lage schnell einen für sie selbst schädlichen Fehler machen. Sind die Drehbücher für mögliche Aktionen und Reaktionen schon geschrieben? Auf russischer Seite jedenfalls skizzieren manche schon mit auffallendem Eifer, wie alles ins Rutschen kommen könnte.

Eines der vielen ernsten Warnsignale aus Russland

„Die Präsenz von US-Kriegsschiffen im Schwarzen Meer könnte die Ukraine dazu verleiten, eine militärische Provokation im Donbass zu versuchen, um sich die Hilfe des Westens zu sichern“, schrieb der stellvertretende Vorsitzende des Rates der Russischen Föderation, Konstantin Kossatschow, am Donnerstag in einem von der Agentur Tass zitierten Beitrag auf Facebook. Kiews anhaltende Klagen über die angeblich erhöhte Zahl russischer Truppen nahe der ukrainischen Grenze deuten laut Kossatschow auf „Pläne für einen Blitzkrieg im Donbass“ hin.

Man kann solche Äußerungen als inhaltlich haltlos abtun, sie sind aber nicht politisch bedeutungslos. Die Tass-Homepage präsentierte Kossatschows Thesen am Donnerstagabend unter den beliebtesten Beiträgen des Tages auf Platz 1.

Manche schmunzeln da, andere tippen sich an den Kopf. Doch zu besichtigen ist hier eines der vielen ernsten Warnsignale aus Russland.

Äußerungen wie die von Kossatschow tragen bei zu einer nationalistischen Stimmung in Russland, die den Griff zu den Waffen irgendwann als zwingend erscheinen lassen könnte: zur Abwehr einer in Wirklichkeit gar nicht bestehenden Gefahr. Auch solche rein politischen Elemente fließen derzeit ein in die laufenden Russland-Analysen der Nato - und trüben das Bild.

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