„Menschen fahren nicht, weil es Straßen gibt, sondern weil sie mobil sein wollen.“ So lässt sich Volker Wissing in einer Pressemitteilung zitieren. Knapp 1000 Kilometer neue Straßen will der Verkehrsminister so schnell wie möglich bauen lassen, auch, um vom Stau geplagte Abschnitte zu entlasten. Eine Investition in die Zukunft soll das sein, meint Wissing.
Doch helfen mehr Spuren wirklich dabei, dass Menschen nicht mehr Stoßstange an Stoßstange in ihren Autos auf der Straße warten müssen? Und was bringen ein günstiger ÖPNV, City-Maut oder Tempolimits? Ein Überblick über populäre Ideen gegen den Stau – und ihren Nutzen.
Straßen ausbauen
Eine durch das Verkehrsministerium in Auftrag gegebene Analyse zeigt: Im Jahr 2051 sind LKW mehr als doppelt so viele Kilometer als im Jahr 2019 auf den Straßen in Deutschland unterwegs. Mit ihren privaten Autos werden Menschen insgesamt aber kaum mehr Strecke als jetzt fahren. Stattdessen wächst der Anteil derer, die die Bahn, das Flugzeug oder das Rad nutzen. Außerdem nehmen die Fahrten aus beruflichen Gründen ab, lautet die Prognose. Grund dafür ist, dass mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. Das bedeutet: Neu gebaute Straßen oder Spuren kommen vor allem der Logistikbranche zugute – und als Nebeneffekt natürlich auch Privatpersonen, die nicht hinter LKW-Karawanen über die Autobahn schleichen müssen.
Allerdings gibt es ein großes „Aber“. Schon in den 1960er-Jahren wies der Ökonom Anthony Downs (1930-2021) darauf hin, dass mehr Straßen mit der Zeit mehr Verkehr nach sich ziehen – und damit auch mehr Stau. Andere Forschende haben dieses Phänomen belegt. Mehr Straßen oder Spuren entlasten den Verkehr langfristig nicht. Sie verlagern das Problem nur. Der Grund: Gut ausgebaute Straßen wirken auf Autofahrende attraktiv. Also setzen sie sich öfter in ihren Wagen. Und bald sind die neuen Straßen schon wieder verstopft. Zudem lassen sich – besonders in dicht besiedelten Gebieten – Straßen nicht einfach verbreitern. Es fehlt schlichtweg der Platz.
ÖPNV ausbauen und günstiger anbieten
Der Ökonom Downs lieferte nicht nur eine Erklärung dafür, warum mehr Straßen zu mehr Stau führen. Er überlegte sich auch eine Lösung für dieses Problem. Was wirklich helfen würde, sagte er, sei den Nahverkehr effizienter zu gestalten. Denn wie Menschen von A nach B kommen, sei ihnen relativ egal. Hauptsache, es funktioniere schnell und bequem.
Den Praxistest hat Deutschland im vergangenen Jahr mit dem 9-Euro-Ticket gewagt. Besonders effizient war die Fahrt damit zwar nicht. Die eh schon unpünktliche Bahn kam mit dem Ansturm nicht zurecht und verspätete sich noch mehr als sonst. Der niedrige Preis lockte allerdings eine Menge Menschen von der Straße auf die Schiene. Eine Analyse des Verkehrsdatenspezialisten Tomtom für das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) zeigte, dass Menschen in vielen deutschen Großstädten weniger Zeit mit ihren Autos im Stau standen.
Doch ein billiger Nahverkehr alleine reicht nicht, wie ein Beispiel aus dem Norden Europas zeigt. In Tallinn, der Hauptstadt Estlands, ist der öffentliche Nahverkehr seit einem Jahrzehnt für Einwohnerinnen und Einwohner kostenfrei. Doch große Effekt blieb aus, berichtet die estnische Nachrichtenplattform „ERR News“. Auf den Straßen fahren immer noch beinahe so viele Autos wie zuvor.
Damit der ÖPNV für viele attraktiv ist, muss seine Taktung zum Takt der Leben der Menschen vor Ort passen. Mindestens muss er pünktlich und regelmäßig fahren. Was der Zug der Zukunft sonst noch bieten könnte, darüber denkt die Deutsche Bahn in ihrem Projekt „Ideenzug“ nach. Dazu zählen: ein Public-Viewing-Bereich mit großem Flatscreen, Sportkabinen mit Spinning-Rädern, ein Low-Budget-Bereich für günstigere Reisen, Büroarbeitsplätze und E-Scooter-Ladestationen.
Tempolimits gegen Stau?
Die Richtgeschwindigkeit auf deutschen Autobahnen beträgt 130 Stundenkilometer. Wer möchte, kann aber weitaus schneller oder langsamer fahren. Wäre es – bezogen auf das Vermeiden von Staus – sinnvoll, die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h zur Höchstgeschwindigkeit zu machen? Nein, es gäbe „wohl keinen nennenswerten Effekt“, meint der ADAC: „Die Kapazität einer Autobahn ist bei Tempo 80 am höchsten.“ Dann fahren Autos und LKW gleich schnell. Es kommt zu weniger Spurwechseln, die den Verkehrsfluss stören.
Je mehr sich die Geschwindigkeit aller Fahrzeuge angleicht, je mehr sie die Geschwindigkeit gleichmäßig halten und Abstand wahren, desto weniger müssen alle bremsen. Dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein „Stau aus dem Nichts“ bildet. Dementsprechend können auch Assistenzsysteme, die automatisch auf Geschwindigkeit und Abstand achten, helfen, Staus zu vermeiden.
Differenzierter betrachtet der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) das Thema Tempolimit gegen Stau. „Bei freier Strecke, auf der jeder so schnell fahren kann, wie es der Wagen hergibt, ohne dass eine Behinderung durch andere Verkehrsteilnehmer stattfindet, bringt ein Tempolimit in der Tat nichts“, schreibt der VDI auf seiner Webseite.
Aber, stellt sich sogleich die Frage, wann ist die Straße denn mal völlig frei? „Optimal ist es, für verschiedene Verkehrsdichten verschiedene Geschwindigkeiten als Tempolimit vorzugeben, um die Staugefahr zu verringern“, meint der VDI. Schon jetzt gibt es vielerorts an den Straßen sogenannte Wechselverkehrszeichen. Das sind elektronische Tafeln, die – je nach Bedarf – zum Beispiel unterschiedliche Höchstgeschwindigkeiten anzeigen. Für mehr davon spricht sich auch der ADAC aus.
Autofahren teuer machen
Wer in London mit dem Auto durch die Innenstadt kurven will, muss ordentlich blechen. Pro Tag zahlen Autofahrende in der Hauptstadt des UK eine Maut in Höhe von 15 Pfund. Parkplätze gibt es in der City nur wenige. Beides soll die Menschen dazu animieren, in Busse und Bahnen zu steigen.
Eine City-Maut wie in London war auch schon einmal für München im Gespräch. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung der Universität München schlugen eine „Anti-Stau-Gebühr“ von 6 Euro pro Tag vor. „Damit könnten wir die Stauprobleme in der Innenstadt in den Griff bekommen“, sagte vor knapp drei Jahren der Industrieökonom Oliver Falck.
Es gebe zudem einen Vorteil gegenüber Fahrverboten: Jeder und jede darf weiterhin mit dem Auto in die Stadt fahren. Der Experte ging davon aus, dass mehr Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt reisen würden, um die Staugebühr nicht zahlen zu müssen. Jedoch: Die City-Maut gibt es in der bayrischen Hauptstadt bis heute nicht.
Singapur ist noch weitaus radikaler. Wer ein eigenes Auto haben möchte, muss umgerechnet mehrere Zehntausend Euro für eine Lizenz bezahlen. Deshalb besitzt dort kaum jemand eines. Das durch die Lizenzen eingenommene Geld nutzt der Stadtstaat, um den öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Ein Mitarbeiter der Transportbehörde Singapurs drückt die Notwendigkeit dieser Maßnahme gegenüber der ARD so aus: „Studien zeigen, dass Menschen, die ein Auto besitzen, dann doch sehr bequem werden. Man muss also Anreize setzen und sich überlegen, wie man sie in die richtige Richtung stößt.“
RND
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