Völkerball und "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?"
Alte Kinderspiele
Haben Sie noch Völkerball gespielt? Oder sind schreiend vor dem schwarzen Mann weggelaufen? Helmut Spiegel lässt die Erinnerung an alte Kindertage wieder aufleben, in der die Kinder sich gegenseitig abgeworfen und gefangen haben. Draußen auf dem Spielfeld - nicht auf dem Bildschirm.

Völkerball haben Mädchen und Jungen zusammen gespielt.
Zwischen unseren Häuserblocks erweitert sich die Straße zu einem großen Platz. Dort spielen wir nach dem Krieg Völkerball. Den dicken Ball haben wir aus Packpapier und Papierkordel zusammengebunden. Er liegt schwer in der Hand, und man spürt ihn, wenn man davon getroffen wird. Jungen oder Mädchen, die man als besonders gute Völkerballspieler kennt, werden Könige. Zwei Mannschaften spielen gegeneinander. Jede Mannschaft bekommt einen König. Die Könige wählen sich ihre Mannschaft. „Piss!“ – „Pott!“ – „Piss!“ – „Pott!“
Die Könige spielen an der jeweiligen Grundlinie des Gesamtfeldes. Vor ihnen befindet sich in dem Halbfeld jeweils die gegnerische Mannschaft. Der König, dessen Mannschaft das Spiel beginnen darf, versucht, einen gegnerischen Spieler in dem Halbfeld abzuwerfen. Trifft er ihn, muss der Spieler das Feld verlassen und sich zu seinem König gesellen, wo er als Werfer weiter mitspielen darf. Geht sein Wurf fehl und der Ball gerät in das Halbfeld seiner eigenen Mannschaft, versucht diese auch sofort, einen Gegner abzuwerfen. Fängt ein Mitspieler, der anvisiert worden ist, den Ball, darf er versuchen, einen Gegner abzuwerfen. Lässt er jedoch den bereits gefangenen Ball wieder fallen, gilt er als abgeworfen.
Vökerball ist laut
Die Mannschaft, die nicht im Ballbesitz ist, weicht natürlich sofort bis zu einer Grenzlinie ihres Feldes zurück, um nicht getroffen zu werden. Dort wartet aber schon der gegnerische König oder warten seine Mitspieler im eigenen Feld. So ist es oft für eine Mannschaft günstiger, nicht auf einen der weit entfernten Gegner zu zielen, sondern den Ball über die gegnerische Mannschaft hinweg dem eigenen König oder den eigenen Feldspielern zuzuwerfen, die in besserer Schussposition sind. So geht das Spiel blitzschnell hin und her.
Sind aus einer Mannschaft alle Spieler abgeworfen, muss der König ins Feld. Er hat drei Leben. Er darf dreimal abgeworfen werden. Ist das geschehen, hat seine Mannschaft das Spiel verloren. Bei gleichwertigen Mannschaften kommt es vor, dass sich zum Schluss nur noch die Könige zum Endkampf im Feld befinden. Wegen der ständigen Zurufe und des Trappelns und Scharrens der Füße auf dem Straßenbelag ist Völkerball ein lautes Spiel. Es stört niemanden. Kinderlärm gehört zum Alltag.
Der Kaiser schickt seine Soldaten aus
„Nein, nicht den Kuno!“, ruft Liesel. Sie hat Angst vor dem Kuno. Der Kaiser der gegnerischen Soldaten hat gerade angekündigt, dass er den Kuno ausschicken werde.
Auf der Bleiche spielen wir im Frühjahr 1946 „Der Kaiser schickt seine Soldaten aus“. Ein beliebtes Spiel bei den Jungen, können sie doch den Mädchen mal zeigen, wie stark sie sind. Zwei Mannschaften zu je fünf Mitspielern stehen sich in etwa 15 Meter Entfernung gegenüber. Sie bilden jeweils eine Reihe und halten sich fest an den Händen. Jede Mannschaft hat einen Kaiser, der von ihr ernannt worden ist. Drüben ist Männe der Kaiser, in unserer Mannschaft ist es die Liesel.
Männe durfte anfangen und hatte gerufen: „Der Kaiser schickt seine Soldaten aus!“ Und unsere Mannschaft hatte zurückgerufen: „Wen schickt er denn aus?“„Den Kuno!“
Jeder muss einmal Soldat sein
Und jetzt kommt der Kuno auf uns zugebraust. Als kleines Kind hatte er Kinderlähmung gehabt. Seitdem zieht er ein Bein nach. Aber er ist breitschultrig und stark, und seine Art zu laufen sieht wegen des behinderten Beines wirklich etwas wild aus. Kuno läuft auch prompt auf Liesel zu, die ich fest an der Hand halte. Bei uns will Kuno durchbrechen. Gelingt ihm das, darf er einen der Spieler, die seinem Ansturm nicht standgehalten haben, mitnehmen und seiner Mannschaft einverleiben.
Als Kuno nur noch zwei Meter von uns entfernt ist, reißt Liesel quietschend ihre Hand aus der meinen, und Kuno prescht durch die Lücke. Grinsend packt er mich an der Hand und nimmt mich als seinen Gefangenen mit in seine Mannschaft. Jetzt ruft der Kaiser der Mannschaft, der ich eben noch angehörte, das ist die Liesel: „Der Kaiser schickt seine Soldaten aus!“
So geht das Spiel hin und her. Jeder muss einmal Soldat sein. Die Mannschaft, die am Ende die meisten Gefangenen gemacht hat, ist der Sieger.
Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?
Ein ähnliches Spiel ist „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“ Zwischen den Wäschepfählen in der Bleiche wird ein imaginäres Viereck abgesteckt. Auf der einen Seite stehen die Mitspieler in einer Reihe, auf der anderen Seite in etwa 20 Meter Entfernung steht der schwarze Mann. Das bin ich. Ich rufe den Kindern zu:
„Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“ „Niemand!“ „Wenn er kommt?“ „Dann kommt er!“ „Wen er kriegt?“ „Den kriegt er!“
Auf mein Kommando „Alle meine Kinder, kommt herbei!“ laufen die Kinder auf mich zu. Auch ich laufe los. Etwa in der Mitte des Spielfeldes begegnen wir uns, und ich muss versuchen, ein Kind zu fangen. Das gefangene Kind ist jetzt auch ein schwarzer Mann. Dann stehen wir uns wieder gegenüber, nur auf den vertauschten Seiten. Nun rufen die beiden schwarzen Männer: „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“ So geht es immer hin und her, bis die schwarzen Männer alle übrigen Mitspieler gefangen haben. Wer zuletzt gefangen wird, ist der schwarze Mann für das neue Spiel.
Das Schönste an diesem Spiel – wenn man das entsprechende Alter hat – ist die Rangelei zwischen Mädchen und Jungen, die man bei der Fangerei unauffällig anzetteln kann. Oder doch nicht so unauffällig. „Du fängst ja immer zuerst die Renate!“, mault Gisela mich an.
Helmut Spiegel: Das Bollerrad muss bollern, der Knicker, der muss rollern – Verlorene Kinderspiele aus dem Ruhrgebiet, Henselowsky Boschmann Verlag, 9,90 Euro, ISBN: 978-3-922750-49-9
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