
Wladimir Putin, Präsident von Russland, an Bord eines Forschungs-U-Bootes C-Explorer 3.11. Das russische Atom-U-Boot (nicht im Bild) soll unbemerkt sechs nukleare Poseidon-Unterwasserdrohnen in Richtung feindlicher Küstenstädte in Gang setzen können. Jede dieser Drohnen soll Atomsprengköpfe mit einer Vernichtungswirkung tragen können, die ein Vielfaches der Hiroshima-Bombe beträgt. © picture alliance/dpa/POOL SPUTNIK KREMLIN/AP
Unterwasserdrohne Poseidon: Putins teuflische Tsunamiwaffe
Nukleare Drohung aus Moskau
Russlands nukleare Unterwasserdrohne Poseidon soll Küsten auf Dauer verwüsten – durch Flutwellen und Radioaktivität. Als Putin die Waffe entwickeln ließ, glaubten viele an ein Hirngespinst.
Zehn Wochen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine wandte sich das russische Staatsfernsehen drohend den Briten zu: Mühelos könne Moskau, wenn es wolle, die kompletten britischen Inseln im Meer verschwinden lassen.
Im beliebten Kanal „Rossiya 1″ erschien Anfang Mai zu besten Sendezeit Dmitry Kisseljow, einer der bekanntesten Kreml-Propagandisten. Kisseljow ist ein langjähriger Vertrauter Putins, er dient dem Staatschef als Generaldirektor der staatlichen Nachrichtenagentur Russia Today, zu der auch das weltweit operierende Nachrichtenportal Sputnik gehört.
Wie die Briten überhaupt auf die Idee kommen können, sich mit Russland anzulegen, sei ihm schleierhaft, hob Kisseljow an - und fuhr breitbeinig fort: „Die wollen allen Ernstes das endlose Russland bedrohen - von einer Insel aus, die derartig klein ist?“
Kisseljow startete computergenerierte Animationen und verwies zunächst auf Russlands neue Interkontinentalrakete Sarmat 2, Nato-Codename Satan 2. Jede ihrer zehn Sprengköpfe kann ein Gebiet in der Größe des US-Bundesstaats Texas verwüsten. „Ein Knopfdruck genügt, Boris, und England ist weg“, höhnte Kisseljow mit Blick auf Londons Premier Boris Johnson. „Und zwar ein für allemal.“
Es folgten Unterwasserbilder. Triumphierend erläuterte Kisseljow seinem Publikum, es gebe „eine weitere Option, Großbritannien zu versenken“: Poseidon. Russlands nukleare Unterwasserdrohne könne vor der Küste „eine 500 Meter hohe, radioaktiv verseuchte Tsunamiwelle auslösen, die über die britischen Inseln hinwegrollt“. Dann sei dort kein Leben mehr möglich.
Schon seit 2021 „in der Testphase“
Als bloße Horrorshow lässt sich Kisseljows Poseidon-Drohung nicht abtun. Zwar haben die Russen ihre Unterwasserdrohne nie öffentlich vorgeführt - während ihre neue Interkontinentalrakete Sarmat 2 bereits im April getestet wurde. Diese Zurückhaltung hat aber naheliegende Gründe. Die russische Marine will dem Westen keine Gelegenheit geben, die elektronische und akustische Signatur des neuen Systems auszukundschaften.
Im schlimmsten Fall würde die Nato den Start der Unterwasserdrohne - anders als den Abschuss von Raketen aus Silos oder von mobilen Plattformen - anfangs gar nicht bemerken: Dies zählt zu den teuflisch wirkenden Eigenschaften des neuen russischen Systems.
Die Existenz der Poseidon-Waffe als solcher aber ist aber mittlerweile ebenso unbestritten wie die politische Aufhängung des Rüstungsprojekts an höchster Stelle in Russland: bei Präsident Putin persönlich.
Zuletzt erwähnte Putin selbst das System bei seiner „Ansprache an die Bundesversammlung“ am 21. April 2021 - was damals im Westen nur einem kleinen Kreis von Militärexperten auffiel. Wenige Tage zuvor hatte bereits der norwegische Geheimdienstchef Nils Andreas Stensønes dem US-Sender CNN mitgeteilt, Poseidon befinde sich bereits „in der Testphase“. Wo genau seine Spione die Drohne gesehen haben, mochte der Norweger nicht sagen. Traditionell blickt der norwegische Geheimdienst in besonderer Weise auf die Barentssee und die Arktis.
Der Westen glaubte an Bluff
Westliche Militärs werden mit Blick auf Poseidon schmallippig „Diese ganze Geschichte ist ehrlich gesagt furchterregend“, sagt ein Mitarbeiter der Nato-Zentrale in Brüssel, der namentlich nicht erwähnt werden will.
Ähnlich sieht es ein hoher Bundeswehroffizier in Berlin, der eine „Zeitenwende in den Rüstungsdebatten“ schon kommen sah, bevor der Krieg in der Ukraine begann. Noch bedrückender als das „unglaublich offensive“ Vorgehen der Russen beim Thema Poseidon sei die langjährige Ignoranz des Westens.
Poseidon? Als im Jahr 2015 erste Hinweise auf das neue russische System kursierten, tippten westliche Experten sich noch an den Kopf: Jetzt übertreibt es Putin aber. Wahrscheinlich alles nur Bluff.
Im Jahr 2018 erwähnte Putin sein Unterwasserdrohnenprojekt offiziell erstmals in seiner Rede zur Lage der Nation. Er zeigte sogar Videos. Erst schwärmte er von neuartigen Marschflugkörpern mit Reaktorantrieb („kein anderes Land hat so etwas entwickelt“), dann lobte er das ebenso neuartige Atomtorpedo, das seine nukleare Fracht geräuschlos durchs Meer befördern werde: „Es gibt nichts, wodurch es aufgehalten werden könnte.“
Spötter wurden von nun an ruhiger. Inzwischen ist klar: Das Ding ist um die 20 Meter lang und um die 40 Tonnen schwer. Es hat sogar schon seine Nummer in den langen Listen der russischen Waffensysteme: 2M39. Die Reichweite soll bei 10.000 Kilometern liegen. Im vorderen Teil der nagelneuen Belgorod-U-Boote, mit 184 Metern Länge die größten der Welt, ist genug Platz für Poseidon.
Im Westen wüsste man dringend gern über ein Detail Bescheid: Welches Geräusch macht der Poseidon-Antrieb? Die Klärung von Fragen dieser Art ist nicht nur in Agentenfilmen, sondern auch im wirklichen Leben Aufgabe von Geheimdienstlern.
Sollte dieser Punkt dauerhaft unklar bleiben, hätte die Nato ein Problem: Ihre Unterwassersensoren – der Nordatlantik ist voll davon – würden ins Leere lauschen. Dann behielte Putin Recht mit seiner Behauptung, Poseidon sei eine „unaufhaltsame Waffe“.
Eine von Poseidon attackierte Region würde doppelt getroffen, erstens durch einen Tsunami, zweitens, im Fall einer Kobaltummantelung des Sprengkopfs, durch eine jahrzehntelange Verstrahlung.
Das neue System erscheint gruselig und rätselhaft zugleich: Warum will Putin, der doch genug Raketen hat, Atomsprengköpfe auf dem Wasserweg an feindliche Küsten tragen? Will er sich zürnend erheben wie der griechische Gott des Meeres, nach dem das System benannt ist?
Logik oder Wahnsinn?
Der russische Präsident ist eher der kühle Typ, der Schachspieler. Er baut nicht, kichernd wie ein Kinogangster, eine Weltuntergangsmaschine um ihrer selbst willen.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich auch, dass so durchgeknallt wirkendes System wie Poseidon als Puzzlestück durchaus hineinpassen kann in ein am Ende sogar logisches System nuklearer Abschreckung.
Was, wenn in nächster Zeit die Raketenabwehr im All und in der Luft weltweit Fortschritte macht? Die Chinesen hantieren viel mit Lasern und Satelliten, die Amerikaner haben eine ganze „Space Force“ formiert. Sollten eines Tages Russlands Atomraketen nicht mehr fliegen können, weil jede auf ihrem Weg zerschossen würde, wäre die Weltmachtstellung Russlands zu Ende.
Wenn es nicht noch einen Ausweg gäbe.
Der Ausweg führt, Putin weiß es, ins Meer. Idealerweise sogar hinab in dessen dunkle, aber sichere Tiefen.
Macht, die aus dem Meer kommt
Mit Poseidon, so hässlich die Waffe sein mag, behielte Putin in jeder für ihn noch so schwierigen Lage die Möglichkeit zu einem Zweitschlag gegen den Feind. Seine nukleare Unterwasserdrohne könnte, selbst wenn es für seine Truppen in der Luft und an Land schon eng werden sollte, abschreckend wirken – und damit die Autorität und den Großmachtstatus Russlands retten.
Was ist noch kluges Kalkül? Und wo beginnt der Wahnsinn? Schon immer war dies in Debatten über nukleare Strategien Ansichtssache. Nato-Planer haben gelernt, mit den makabren Abgründen ihrer Wenn-dann-Überlegungen zu leben. Schon die Abkürzung für die im Kalten Krieg entwickelte und bis heute geltende Doktrin der gegenseitig zugesicherten Vernichtung („mutually assured destruction“) war stets doppeldeutig: „MAD“ heißt eben auch verrückt.

„Wer das Meer beherrscht, beherrscht alles“: Putin bei einer Übung der russischen Marine im Januar 2020 im Schwarzen Meer. © picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin
Rundum rational indessen, wenn auch für Laien auf den ersten Blick schwer verständlich, ist Putins Hinwendung zum Meer und besonders zur Unterwassertechnologie.
Die Russen hatten auf diesem Feld schon zu zaristischen Zeiten technologisch die Nase vorn. Das legendäre Rubin Design Bureau in Sankt Petersburg konzipierte die ersten U-Boote im Jahr 1901. Jetzt hat es die Poseidon erfunden.
Eine russische Lehrvorführung im Eis
„Wer das Meer beherrscht, beherrscht alles“, lehrte der griechische Staatsmann und Feldherr Themistokles. Heute, 2500 Jahre später, könnte man ein Update hinzufügen: Nichts ist bei Ausübung der Herrschaft über ein Meer hilfreicher als ein System, das Schiffe versenken und Häfen zerstören kann, aber seinerseits unsichtbar bleibt. Könnte Russland dauerhaft jeden Schiffsverkehr von den USA nach Europa stoppen, hätte der Westen den Krieg verloren, bevor er beginnt.
Mit seiner Unterwasserdrohne treibt Putin die Logik des maritimen Machtkampfs auf die Spitze – und das auch noch ohne Risiken für eigenen Leute. Auch auf feindliche Kriegsschiffe ließe sich Poseidon ausrichten. Statt nur wie frühere Torpedos ein Loch in den Rumpf zu sprengen, könnte die Drohne eine Atomexplosion mit dem Äquivalent von zwei Megatonnen TNT auslösen. Dann bliebe nichts mehr übrig von kompletten Flugzeugträgern, samt der üblichen Begleitung zu Wasser und in der Luft.
Was Seemacht bedeutet, führte Putin Ende März in der Arktis vor. Dort ließ er drei Atom-U-Boote gleichzeitig aus dem Eis auftauchen – eine nie dagewesene Machtdemonstration, die weltweit auffiel. Die russische Marine filmte das Spektakel aus der Luft, auf Youtube bekam das Video mehr als 1,2 Millionen Klicks.
„So etwas“, erklärte Putin anschließend mit feierlichem Ernst, „hat es noch nie gegeben, weder in Zeiten der Sowjetunion noch in der Geschichte des modernen Russlands.“
Die Psychobotschaft aus Moskau war klar: Hey, wir Russen beherrschen übrigens die Arktis.
Sogar unter westlichen Experten, die später diese und eigene Bilder auswerteten, gibt es Anerkennung. Durchs Eis aufzutauchen sei gar nicht so einfach, raunt ein Fachmann in Brüssel. Nato-U-Boote seien bei vergleichbaren Manövern „fast schon mal festgefroren“.
Was er nicht sagt: Die Nato hat die Arktis lange Zeit auch gar nicht auf dem Zettel gehabt. Jahrzehntelang war die Gegend wegen erwiesener Ödnis abgeschrieben.
Putins eiskalter Griff nach der Arktis
Putin indessen fährt in der Arktis neuerdings alles auf, was gut und teuer ist. Die russische Nordmeerflotte in Murmansk wird mit Milliardenaufwand modernisiert, die U-Boot-Werft in Severodvinsk arbeitet an ihren Kapazitätsgrenzen. Jeder noch so kleine Militärposten in schneeverwehten Ecken bekommt schnelles Internet. Und überall im hohen Norden rotieren bald Russlands ultramodernes Rezonans-N-Radar, das angeblich sogar mit Überschallgeschossen klarkommt. Die dritte Anlage ging bereits ans Netz, Nummer vier und fünf folgen laut Tass bis Jahresende.
Wozu der Aufwand? Putin sieht in der Region den Schlüssel zu globaler Macht, militärisch und ökonomisch.
Manche Kremldeuter legten zwar anfangs wieder ihre alte Platte auf und sagten, Putin wolle auch rund um den Nordpol wieder „nur eine militärische Show abziehen“ und „nationalistische Reflexe im eigenen Land bedienen“. Dies alles solle ablenken von den Alltagssorgen der Russen, etwa von steigenden Preisen und sinkenden Reallöhnen.
Doch das ist zu kurz gesprungen. Tatsächlich geht es in der Arktis um sehr viel mehr. Sollte sich Putin bei den anstehenden Machtkämpfen am nördlichen Ende der Welt durchsetzen, könnte dies auf Jahrzehnte hinaus den realen globalen Spielverlauf ändern – zu Gunsten Russlands.
Vier Faktoren beflügeln Putins eiskalten Griff nach der Arktis:
- Über die endgültige völkerrechtliche Aufteilung der Arktis ist aus der Sicht Moskaus noch gar nicht entschieden. In einem Antrag an die Vereinten Nationen machte Moskau soeben erneut geltend, der russische Festlandsockel reiche bis kurz vor Kanada. Bis zur Klärung aller Details, meint man in Moskau, könne es nicht schaden, in der Region schon mal die Ellenbogen auszufahren.
- Der Klimawandel erleichtert neuerdings den Zugriff auf die Bodenschätze der Arktis. Immer größere Regionen sind für immer längere Zeiten des Jahres eisfrei. Putin will in der Arktis Rohstoffe wie Nickel, Kobalt und strategisch wichtige seltene Erden abbauen. Zugleich will er aus der Arktis Öl und Gas herausholen – ein unter Umweltgesichtspunkten geradezu zynisches Manöver: Putin würde die Effekte des Klimawandels nutzen, um ihn gleich noch weiter anzutreiben.
- Die zunehmende Eisfreiheit könnte der Schifffahrt durch die Arktis eine neue globale Bedeutung geben. Die „Northern Sea Route“(NSR) würde die Verbindung zwischen Europa und Asien abkürzen und zur Konkurrenz für den Suez-Kanal werden. Ähnlich wie Ägypten am Suez-Kanal will Russland an der NSR für Sicherheit sorgen – und abkassieren. Eine neue, ewige Einnahmequelle in der globalen Wirtschaft wäre gefunden.
- Das Hightech-Kräftemessen zwischen Ost und West verlagert sich ohnehin seit Jahren immer mehr in den hohen Norden, wo Russland und die USA direkt aufeinander stoßen. Zunehmend wird die Arktis eine militärische Arena, in der es weniger auf die Quantität der Truppen als auf die Qualität der Waffen ankommt.
„Ukraine ist nur Putins erste Schlacht“
Putin setzt inzwischen an dieser Stelle Zeichen ganz eigener Art. So gefiel es ihm, dass im letzten Jahr aus Anlass seines Geburtstags am 7. Oktober in der Barentssee der neue Überschallflugkörper Zirkon getestet wurde. Die Rakete, abgefeuert von der Fregatte Admiral Groshkov, erreicht Ziele in 1000 Kilometern Entfernung neunmal schneller als der Schall – und könnte nach russischen Angaben von der Nato schon wegen kaum vorhandener Vorwarnzeiten nicht aufgehalten werden.
Der neue Auftritt in der Arktis hat viel mit Russlands neuer Technologie zu tun. „In früheren Zeiten hätte Russland sich so etwas gar nicht getraut“, sagt in Berlin ein Bundeswehroffizier, der mit den jüngsten russischen Aktivitäten vertraut ist. „Die haben in Mitteleuropa jahrzehntelang auf Masse statt Klasse gesetzt.“ Dass sich das jetzt unter Putin in Richtung Qualität drehe, sei der eigentliche historische Einschnitt. Düster fügt er hinzu: „Das wird uns alle in den kommenden Jahren noch mehr beschäftigen, als wir jetzt ahnen.“
Ähnlich sehen es viele US-Militärs, die inzwischen davor warnen, den Blick auf die Ukraine zu verengen. Für einen Landkrieg im Nachbarland, das liegt auf der Hand, braucht Putin keine Unterwasserdrohne mit 10.000 Kilometern Reichweite.
In Wirklichkeit, warnte Wesley Clark, der frühere Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa, schon im März in einem Interview mit der Deutschen Welle, stelle der russische Präsident die komplette bisherige Weltordnung in Frage: „Der Einmarsch in die Ukraine ist nur Putins erste Schlacht.“
Der Artikel "Unterwasserdrohne Poseidon: Putins teuflische Tsunamiwaffe" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.