Uniklinik Bochum bietet Therapie für Internetsüchtige
Interview
Mit "Oasis" bietet die LWL-Uniklinik Internetsüchtigen neue Wege in die Therapie - via Webcam. Dr. Bert te Wildt, Leiter der Medienambulanz gehen damit neue Wege. Wir haben mit dem Arzt und Psychotherapeuten über Gründe für Internetsucht, die Anerkennung der Krankheit und die Flucht aus der realen Welt gesprochen.

Internetsüchtige ziehen sich häufig aus der wirklichen Welt zurück.
Wie leben Menschen, die internetsüchtig sind? Bert te Wildt: Sie leben häufig zurückgezogen, das Erleben wird weit in die virtuelle Welt verlagert, denn die ist aus der Perspektive der Süchtigen heraus attraktiver, sicherer und kontrollierbarer. Für das konkrete Leben bedeutet das: Die Lebensbedingungen von Körper und der Zustand der Wohnung reduzieren sich auf ein Minimalmaß und dienen nur noch als Basis, um möglichst ungestört Ausflüge in die virtuelle Welt zu unternehmen. Wobei es sich da meist um Daueraufenthalte handelt, da häufig die gesamte Wachphase eines Tages im Internet verbracht wird.
Womit verbringen Menschen so viel Zeit im Internet? te Wildt: Es geht dabei hauptsächlich um Online-Spiele, Soziale Netzwerke und Cybersex. Die Sucht führt zu negativen Folgeerscheinungen, zum Beispiel auf soziale Beziehungen und auf die Leistungen in Ausbildung und Beruf. Dies liegt an dem charakteristischen Kontrollverlust des Suchtverhaltens. Die Menschen richten ihren Alltag nach ihrer Abhängigkeit aus – sie können bei Entzug depressiv, aggressiv oder panisch werden. Es herrscht ein Drängen zum Konsum des Suchtmittels, sie haben das Gefühl, immer präsent sein zu müssen und müssen deshalb über Computer wie mit einer virtuellen Nabelschnur mit dem Netz verbunden sein.
Wie viele Menschen in Deutschland sind von der Sucht betroffen? te Wildt: Es sind mindestens 1 bis 1,5 Prozent der 14- bis 64-Jährigen, also mindestens 550 000 Menschen in Deutschland. Bei den 14- bis 16-Jährigen liegt der Anteil deutlich höher bei etwa 3 bis 4 Prozent.
Warum wird ein Mensch überhaupt süchtig nach dem Internet? te Wildt: Es ist attraktiv. Man kann dort sein, wer man in der realen Welt nicht sein kann: ein strahlender Held, jemand, der nie stirbt oder wirklich scheitert. Man muss dort auch keine Angst haben. Meistens sind es Menschen mit einem vergleichsweise hohen Maß an Selbstunsicherheit und Selbstwertkonflikten, die sie in der virtuellen Welt kompensieren. Dort gewinnen sie den Eindruck: ‚Da bin ich wer‘. Und die virtuellen Erfolge werden belohnt, auch im neurobiologischen Sinn. In Sozialen Netzwerken und Online-Games erfolgt diese über Belohnungsreize wie die Anzahl der Freunde und Follower oder Punkte und Level. Das ähnelt stark der Glücksspielsucht, der bislang einzig anerkannten Verhaltenssucht.
Wie läuft dann die Abrechnung mit den Krankenkassen ab, wenn Internetsucht nicht anerkannt ist? te Wildt: Das Entscheidende ist der ICD-10 (International gültige Klassifikation von Krankheiten, die von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird. Krankenkassen richten sich unter anderem für Abrechnungen danach, Anm. d. Red.). Ich sitze unter anderem in einem Gremium, in dem auch Berater der Weltgesundheitsorganisation sitzen. Ich hoffe, dass im ICD-11 Internetsucht aufgenommen wird. Wann der veröffentlicht wird, ist aber noch nicht entschieden. Bisher gibt es aber überhaupt keine Schwierigkeiten mit der Abrechnung, da das Problem längst erkannt wurde und Internetsucht in die Kategorie „Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ des ICD-10 fällt. Unsere neue Online-Ambulanz ist davon erst einmal unabhängig, weil sie als Modellprojekt finanziell vom Bundesministerium für Gesundheit getragen wird.
Sie bieten ab dem 1. September die Online-Sprechstunde an, die Gespräche laufen via Webcam ab – über Internet also. Ist das nicht genauso, als würden sich die Anonymen Alkoholiker zur Besprechung in einer Kneipe treffen? te Wildt: Wir glauben nicht, dass wir die Sucht durch die Webcam-Sprechstunde verstärken. Wir bieten mit Oasis keine Therapie im engeren Sinne an, sondern bahnen diese an. Es geht darum, die Menschen niederschwellig dort abzuholen, wo die Sucht entstanden ist. Viele Betroffene erreichen wir nicht und daher sind wir gespannt, wer nun online auf uns zukommt. Noch stellen sich beispielsweise Mädchen und junge Frauen nur selten in unserer ‚Offline‘-Ambulanz vor, obwohl Studien zeigen, dass sie gleichermaßen betroffen sind.
Worum geht es in Ihrer Sprechstunde, wenn sie keine klassische Therapie anbieten? te Wildt: Erstens geht es darum, zunächst diagnostisch einzugreifen und die Sucht zu erkennen. Zweitens geht es darum, eine Therapie in die Wege zu leiten, da die Menschen, mit denen wir sprechen, häufig nicht aus Bochum und der näheren Umgebung kommen, sondern aus weiter entfernten Städten. Das heißt, wir vermitteln deutschlandweit in therapeutische Einrichtungen.
Die Digitalisierung geht weiter, täglich gibt es neue Apps und Angebote im Internet. Welcher Bereich oder Trend wird in Zukunft eine große Rolle in Sachen Internetsucht spielen? te Wildt: Wir beobachten, dass sich andere Süchte ins Internet verlagern, so wie zum Beispiel die Glücksspielsucht oder die Kaufsucht. Ansonsten glaube ich, dass es in Zukunft besonders häufig um Augmented Realitiy und Virtual Reality gehen wird. Man kann jetzt schon mit Hilfe von Spezialbrillen oder durch die Kamera eines Smartphones durch die Straßen laufen und dabei die Welt mit einem virtuellen Film überziehen. Und so etwas wie Second Life wird es vermutlich noch mal geben, allerdings nicht als Spiel im engeren Sinne, sondern als Parallelwelt, die dann aber wirklich echt aussieht. Mit diesen Technologien wird die virtuelle Welt noch einmal an Verführungskraft und Suchtpotential gewinnen und wir damit an Realitätsbezug verlieren.