Neue Angriffe gegen die Bevölkerung: Ukraine vor „einem der härtesten Winter in der Geschichte“
Ukraine-Krieg
Russlands Angriffe auf die Energieanlagen der Ukraine reißen nicht ab. An diesem Wochenende gab es weitere Attacken. „Dieser Winter wird brutal“, so die ukrainische Abgeordnete Inna Sovsun.
Die russischen Streitkräfte haben am Wochenende die Angriffe auf die kritische Infrastruktur und andere zivile Ziele der Ukraine fortgesetzt. Am Samstag wurden erneut Teile der Energieversorgung in Kiew zerstört. Die Bewohner im Großraum der Hauptstadt wurden aufgefordert, ihren Energieverbrauch auf ein Minimum zu reduzieren. „Bitte laden Sie jetzt, vor dem Abend, Ihre Handys und Powerbanks auf“, forderte der ukrainische Energieversorger Ukrenerho seine Kunden auf.
Auch in der Regionalhauptstadt Saporischschja standen Energieanlagen unter Beschuss. Nach Angaben des US‑Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) sollen dabei Raketen und iranische Kamikazedrohnen eingesetzt worden sein. In der nahelgelegenen Stadt Nikopol seien am Sonntag mindestens 30 Geschosse eingeschlagen und Stromleitungen zerstört worden, so der stellvertretende Chef des Präsidialbüros, Kyrylo Tymoschenko. Weitere Angriffe mit Raketenwerfern und Kampfflugzeugen hat es laut ukrainischem Generalstab in Donezk und Cherson gegeben.
„Jetzt stellen wir uns auf die nächsten Angriffe auf unsere Energieinfrastruktur ein“, sagt die ukrainische Abgeordnete und Ex‑Vizeministerin Inna Sovsun dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Wenn wir beim nächsten Mal nicht in der Lage sind, die Stromversorgung wiederherzustellen, oder wenn die Russen das Heizwerk einer Stadt treffen, könnten wir in große Schwierigkeiten geraten.“ Helfen sollen Luftverteidigungssysteme wie das deutsche Iris‑T. Sovsun harrte selbst über Stunden bei Luftalarm in einem U‑Bahnhof aus und ist daher sehr dankbar für die Unterstützung. „Das große Problem ist aber, dass es sich bisher nur um ein einziges System handelt, das lediglich eine Stadt schützen kann.“
„Der Winter wird brutal“
Während erste Reparaturarbeiten an der Infrastruktur bereits abgeschlossen sind, bereiten sich die Menschen in der Ukraine auf einen harten Winter vor. „Der Winter wird brutal, wir werden Versorgungsprobleme erleben, etwa bei der Heizung oder beim Strom“, sagt Sovsun. „Die Menschen wissen genau, dass dies einer der härtesten Winter in der ukrainischen Geschichte sein wird.“ Trotzdem gerate die Bevölkerung nicht in Panik oder versuche zu flüchten, beobachtet sie.
Die ukrainische Regierung empfiehlt den Kauf von Generatoren und Heizmaterial für die Wohnung. Wer ein eigenes Haus besitzt, soll auf alternative Heizquellen umsteigen. Für ihre Eltern hat die ukrainische Abgeordnete bereits einen Generator gekauft. Sie selbst wohnt in einem großen Wohnblock mit Zentralheizung. „Da bleibt mir nichts anderes übrig, als dicke Kleidung zu kaufen.“ Damit es in einer Millionenstadt wie Kiew bei einem Ausfall der zentralen Heizung einen Ort gibt, an dem man sich aufwärmen kann, bittet die Regierung bereits ihre Partner um Generatoren und Heizungsanlagen. Viele Menschen, sagt Sovsun, überlegen sich gerade einen Plan B für den Fall, dass die Energieinfrastruktur im Winter erneut stark zerstört wird. Die Nachfrage nach Kaminholz habe stark zugenommen und viele Menschen gingen zu Freunden, die einen Kamin besitzen.
Kämpfe könnten sich im Winter in den Süden verlagern
Ihr Mann kämpft derzeit im Süden der Ukraine um die Rückeroberung mehrerer Orte. „Bring mir einen Panzer aus Deutschland mit“, schrieb er ihr, als sie für einige Tage zum Austausch mit Bundestagsabgeordneten nach Berlin gefahren ist. Ob die Kämpfe im Süden auch bis in den Winter anhalten, hängt laut Experten vom Wetter in diesem Jahr ab. „Bleibt der Winter in der Südukraine und auf der Krim mild, könnten sich die Kämpfe dorthin verlagern“, erklärt Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). „Die Ukraine versucht bereits mit gezielten Schlägen auf die Versorgungswege in den Süden, die Russen vom Nachschub abzuschneiden“, sagte er im Gespräch mit dem RND. Entscheidend sei laut dem Experten, ob Russland eine größere Truppenzahl und auch schwere Waffen in den Süden verlegen kann.
Dagegen sind in der Ostukraine größere Kämpfe schon bald aufgrund des erst schlammigen und sumpfigen Geländes und später wegen Eis und Schnee kaum mehr möglich. Daher versuchen russische und ukrainische Truppen vor Beginn des Winters noch einige Kilometer Geländegewinne zu machen. In der ostukrainischen Region gab es am Wochenende nahe von Kreminna, Swatowe und Sjewjerodonezk laut dem ISW-Lagebericht weitere Kämpfe. Russische Militärblogger befürchten, dass die Ukraine eine letzte größere Gegenoffensive um Kreminna planen und Swatowe einnehmen könnte.
Meldungen über größere Vorstöße der russischen Truppen gab es zuletzt nicht. „Wir sehen hilflose Offensiven der Russen im Donbass“, sagt Mölling. „Die russische Armee kommt in der Ostukraine kaum voran und muss immer wieder Gegenschläge der Ukrainer hinnehmen.“ In russischen Telegramkanälen wird zudem schon länger die Befürchtung diskutiert, dass ukrainische Truppen in Richtung Cherson und Krim vorrücken könnten. Die Beobachter vom ISW berichten, dass zahlreiche russische Militärblogger von einer ukrainischen Gegenoffensive in Cherson auf russische Stellungen entlang einer größeren Frontlinie schreiben. Ob es dort größere erfolgreiche Angriffe gibt, lässt sich nicht überprüfen. „Gelingt der Ukraine dieser Vorstoß noch vor dem Winter, wäre das für Russland ein enormer Rückschlag“, sagt Mölling.
RND
Der Artikel "Neue Angriffe gegen die Bevölkerung: Ukraine vor „einem der härtesten Winter in der Geschichte“" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.