"Uhren sind wie mechanische Lebewesen"

Portrait einer Uhrmacherin

An einem geschenkten Tag, da könnte man Uhren auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Sylvia Wildner tut dies beruflich. Naja gut, heute nicht mehr, denn die Zeiten haben sich geändert. Aber sie hat es gelernt und ist fasziniert von dieser Arbeit. Die 52-Jährige ist Uhrmacherin. Ein ganz besonderer Schlag Mensch. Ein Portrait.

LÜNEN

, 26.02.2016, 11:27 Uhr / Lesedauer: 4 min

"Uhrmacher kann nicht jeder werden", sagt Silvia Wildner und schmunzelt kurz, als sie gefragt wird, wie ein Uhrmacher tickt. Man müsse Ruhe an den Tag legen. Geduldig sein. Ein Gefühl für Technik und Gefallen an Arbeiten mit Metall haben.

Gelassen ist sie, diese Frau mit den langen, schwarzen, gewellten Haaren. Als sei da Stille sitzt sie in einem Sessel in ihrem Wohnzimmer, in dem zahlreiche Uhren laut, monoton und ungleichmäßig ticken. Zwei große Wanduhren und eine Standuhr - alle drei mit Pendel - sind die Blickfänge in dem Raum, in das sie zum Gespräch eingeladen hat. Weitere kleinere Uhren stehen auf den Schränken und hängen an den Wänden. Die 52-jährige, die im Schmuck- und Uhrenfachgeschäft "Larsen" in Lünen arbeitet, ist vollkommen auf ihre Worte konzentiert. Die Uhren bringen sie nicht aus dem Takt.

Uhrticken als Schlaflied

Im Gegenteil. "Das Ticken gehört für mich zum gewohnten Geräuschpegel. Es würde mir wohl fehlen, wenn es nicht da wäre", sagt sie. Die Uhrmacherin mag das Ticken. Das sei schon so gewesen, als sie noch ein Kind war. Leicht verträumt erinnert sie sich an den Reisewecker ihrer Oma, der neben ihr stand, wenn die kleine Sylvia schlafen sollte.

Mit den Jahren im Beruf wuchs auch die Begeisterung für Uhren. Heute personifiziert die gebürtige Kamenerin diese sogar, nennt sie "mechanische Lebewesen". Die Unruh - der Gangregler - sei das Herz. Und die Feder, die man aufdreht, sei wie das Essen, das dieses Lebewesen brauche, damit es nicht stehen bleibt. Und dann spricht Wildner noch von den Zapfen, die so dünn seien wie Menschenhaar.

Eine persönliche Beziehung zu Uhren

Uhren sind für die ruhige Frau mit dem gewinnenden Lächeln weit mehr als modische Accessoirs. Sie besitze nicht viele - Armbanduhren hat sie 8 oder 9, Wanduhren 12 oder 13 -, aber sie habe eine persönliche Beziehung zu jeder einzelnen.

  • Eine hat sie selbst gefertigt.
  • Eine ist ein Erbstück ihres Großvaters.
  • Eine dritte - ihre Lieblingsuhr - hat sie sich gewünscht, weil sie aus einer limitierten Edition von Maurice Lacroix stammt und besondere technische Feinheiten aufweist: Sie hat zum Beispiel zwei Uhrwerke.

"Andere wünschen sich ein teures Auto, ich wünsche mir besondere Uhren", sagt Sylvia Wildner und wirft einen zufriedenen Blick auf ihre Lieblingsuhr. Ganz gelassen.

Damit die Zeit nicht so drängt

Aber bei aller Liebe zum Ticken und Schlagen ihrer Uhren, es komme auch vor, dass sie sich von den "mechanischen Lebewesen" getrieben fühlt, gibt die Uhrmacherin zu. Sie sei bummelig geworden, sagt sie offen. Wenn sie Termine einhalten müsse und überall sehe, dass sie spät dran sei, stresse das schon mal. Überall ist hier übrigens wörtlich gemeint: Sylvia Wildner hat in jedem Zimmer ihrer Wohnung Uhren. Aber sie trickst sich ein bisschen aus, damit der Zeitdruck nicht zu groß wird: "Meine Uhren gehen alle vier bis fünf Minuten vor. So habe ich immer einen kleinen Puffer."

 

 

Kleine Alltagstricks hin oder her, die sympatische Frau verlässt sich auf ihre Wand- und Armbanduhren. Das muss sie auch. Ihre innere Uhr tickt nämlich weniger gut. "Ohne Uhr verliere ich das Zeitgefühl", sagt sie. Nicht zu wissen, wie spät es ist, mache sie nervös, auch wenn sie Zeit hat.

Fisselarbeit

Nervosität kann Wildener aber nicht gebrauchen. Erst Recht nicht bei der Arbeit. Schließlich müsse sie viel mit kleinen Teilchen arbeiten. Zwar sei die Fertigung und Restauration von Uhren nicht mehr Teil ihrer täglichen Aufgaben - bei "Larsen" ist sie auf den Servicebereich spezialisiert, das heißt: Batteriewechsel und hauptsächlich kleinere Reparaturarbeiten an Armbanduhren -, aber in der Ausbildung sei das Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Uhren ein elementarer Bestandteil gewesen.

Ein Gefühl für Technik und den Gefallen an Arbeiten mit Metall hat Wildener schon als Schulabgängerin nach der zehnten Klasse gehabt. Zwar war es Zufall, dass sie am 1. August 1980 eine Ausbildung zur Uhrmacherin begonnen hat - doch schon beim Probearbeiten in ihrem Ausbildungsbetrieb hatte sie Spaß daran, Messing zu sägen, zu feilen und ein Uhrwerk mit fünf oder sechs Zahnrädern auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen.

Eine Form von Kunst

Wie so ein Uhrwerk funktioniert kann Sylvia Wildner im Detail erklären. Dafür dreht sie ihre Lieblingsarmbanduhr um. Das Uhrwerk ist dort sichtbar. Sie zeigt auf die Zahnräder, erklärt, welches Rad sich wie schnell dreht und wie sie ineinander greifen und die Zeiger bewegen. 

Uhren seien für sie eine Kunstform. Diese Art, die kleinen metallischen Teilchen zusammenzusetzen, begeistert sie. Mit ihren Fachkenntnissen kann sie nachvollziehen, weshalb manche Uhren sechsstellige Summen kosten. "Das sind zum Teil richtige Kunstwerke", sagt sie, und der Gedanke an Uhren mit ewigen Kalendern und Tourbillons (gleichen Fehler der Ganggenauigkeit durch die Schwerkraft aus) lässt ihre Augen leuchten.

Ein bisschen Wehmut

Schade findet Wildener es schon, dass sie mit den technischen Feinheiten von Uhren in ihrem Alltag kaum mehr etwas zutun hat. "Das bedauere ich", sagt sie. Aber sie werde gebraucht, und das sei ihr wichtig. "Ich bin allein in der Werkstatt. Und die Arbeiten, die ich erledige, kann auch nur ein Uhrmacher machen", erläutert sie. Allerdings sei das Arbeitsaufkommen mittlerweile auch nicht mehr so groß. So führte sie ihr Weg von der Lehre über die Gesellen- und Meisterprüfung nach 34 Jahren in Vollzeitbeschäftigung vor zwei Jahren in die Teilzeitarbeit.

Schlimm findet Sylvia Wildner das nicht. Kein Wunder. Ihre Uhren begleiten sie schließlich auch im Privatleben. Und das müsse so sein, sagt sie noch einmal. "Ohne diese Begeisterung wäre ich sicherlich nicht so lange in ihrem Beruf geblieben." Ein Schlusswort soll das wohl sein. Denn prompt schlagen die Uhren im Wohnzimmer der 52-Jährigen.

Und das klingt so:

  • Die Kieninger-Uhr
  • Die älteste Uhr
  • Die Standuhr

 

Unser Projekt "24 Stunden - 24 Facetten der Zeit"

Dieser Artikel ist Teil unseres großen Multimedia-Projekts "24 Stunden - 24 Facetten der Zeit" zum Schalttag, zum 29. Februar 2016. Unser Tipp: Nehmen Sie sich Zeit für diese Zeit-Reise.

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