Terry Reintke: „Man muss eine andere Sprache finden“
Gelsenkirchenerin im EU-Parlament
Seit gut einem Jahr sitzt die Gelsenkirchenerin Terry Reintke nun für die Grünen im Europaparlament und gehört dort mit gerade einmal 28 Jahren zu den jüngsten Abgeordneten. Wir haben mit ihr im Interview über Jugendarbeitslosigkeit in Europa, soziale Medien in der Politik und ihre Herkunft aus dem Ruhrgebiet gesprochen.
Stimmt es eigentlich, dass die Entscheidungen im Europaparlament sehr weit weg sind von den tatsächlichen Problemen der Menschen?
Es gibt schon Momente, in denen das Vorurteil über das Parlament stimmt. Es werden teils sehr technische Dinge thematisiert, etwa Debatten über Finanzpolitik oder Schattenbanken. Ich glaube, dass ganz viele Menschen nicht mal wissen, was Schattenbanken sind. Aber dann gibt es auch immer wieder Diskussionen, die sehr direkt das Leben von Menschen beeinflussen. Neulich haben wir zum Beispiel darüber abgestimmt, dass es weniger Plastiktüten geben soll, weil die nicht nachhaltig sind.
Was hat sie selbst überrascht?
Im Europaparlament haben Abgeordnete eine große Freiheit und viele Möglichkeiten, die Debatten mitzugestalten, auch wenn sie nur einer kleinen Fraktion wie den Grünen angehören. Das wäre im Bundestag nicht vorstellbar. Natürlich haben Konservative und Sozialdemokraten viel mehr Stimmen hinter sich. Aber ich kann trotzdem, wenn ich ein gutes Argument habe, meinen Änderungsantrag mit einbringen. Das kommt meiner Vorstellung, wie Politik eigentlich funktionieren sollte sehr nahe und macht mir wahnsinnig viel Spaß.
Das Parlament ist oft fast leer, wenn Sie dort Reden halten. Sie tun das trotzdem mit großer Leidenschaft, fast Wut.
Weil eine parlamentarische Plattform auch ermöglicht, den Bürgern eine Vorstellung davon zu geben, was eigentlich gerade falsch läuft. Ich kann im Parlament natürlich auch kleine Erfolge feiern, aber die großen Würfe kann ich nur hinbekommen, wenn ich Leute in der Bevölkerung habe, die hinter mir stehen, die auf die Straße gehen, die Briefe schreiben. Ansonsten kann man zum Beispiel niemals ein Vorhaben wie das Freihandelsabkommen TTIP verhindern.
Ihre Reden findet man auf Youtube und Sie nutzen auch Twitter und Facebook intensiv. Welche Rolle spielen für Sie die sozialen Medien in der Politik?
Ich nutze soziale Medien schon bewusst und überlege, wie ich die verschiedenen Kanäle unterschiedlich bespielen kann. Ich habe unheimlich viele Treffen. Wenn man da überhaupt erstmal erklären will, warum dieses Treffen stattfindet, das würde niemals auf Twitter passen.
Stattdessen veröffentlichen Sie auch regelmäßig Fotos von den Treffen.
Ja. Ich glaube neben den von uns Politikerinnen und Politikern formulierten Forderungen ist es auch wichtig, dass man noch ein bisschen weiter vorne anfängt, um erst einmal zu zeigen: Wie sieht eigentlich so ein Parlament aus, wie sehen die Leute aus, was passiert da? Damit Menschen eine Vorstellung davon bekommen, was wir da in Europa eigentlich machen.
German delegation working lunch at #egp22:). @MiKellner@peter_simonepic.twitter.com/AwpuoNdoJw
— Terry Reintke (@TerryReintke)
Vergangenes Jahr haben Sie ein Video mit Fraktionskollegen veröffentlicht, in dem Sie mit jugendlichem Elan und einem lauten „Juhu“ ins Bild gesprungen kamen. Danach gab es Spott von einer Satiresendung und gehässige Kommentare im Netz.
Tja, soetwas kann auch schief gehen. Aber deshalb die sozialen Medien nicht mehr zu nutzen kann nicht die Lehre daraus sein. Den Anspruch, Politik anders zu vermitteln als „ich stell mich vor eine Kamera und erkläre in drei Sätzen, worum es im Gesetzesvorschlag geht“, den möchte ich immer noch umsetzen. Wenn man sich die niedrige Wahlbeteiligung bei den Europawahlen, aber auch bei Kommunalwahlen, gerade auch im Ruhrgebiet, anschaut, muss man eine andere Sprache finden, um auch Menschen zu erreichen, die nicht jeden Abend die Tagesschau gucken.
Sie sind in Gelsenkirchen aufgewachsen und wohnen heute in Duisburg. Wie hat Sie Ihre Herkunft aus dem Ruhrgebiet geprägt?
Die Debatte um die richtige Energiepolitik ist im Ruhrgebiet natürlich sehr präsent. Eines der ersten Themen, die mich in die Politik gebracht haben, war damals der Bau des Kohlekraftwerks von Datteln. Da war ich 15 oder 16 Jahre alt. Ich war in der lokalen grünen Jugend aktiv und wir haben gesagt: Das ist aus ökologischen Gründen falsch und nicht nachhaltig. Auch Arbeitslosigkeit ist natürlich ein allgegenwärtiges Thema, wenn man aus Gelsenkirchen kommt.
Bei einer Rede über Jugendarbeitslosigkeit im Parlament haben Sie im vergangenen Jahr ein T-Shirt mit der Aufschrift "Keynes lebt" getragen, also für den Ökonomen John Maynard Keynes geworben, der gefordert hatte, dass der Staat in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit selbst investieren müsse. Ist es in Europa eigentlich mittlerweile eine radikale Haltung, sich zu Keynes' Wirtschaftstheorie zu bekennt?
Wenn man sich die Politik der EU, der Mitgliedsstaaten und vor allem auch der deutschen Bundesregierung der letzten Jahren anschaut, kommt es anscheinend vielen heute fast extrem vor, Keynes gut zu finden. Ich finde das dramatisch. Es ist ja nicht irgend ein altruistischer Quatsch, Investitionspolitik zu machen, sondern das ist einfach ökonomischer Bedarf. In der Krise nicht zu investieren und immer weiter zu sparen ist genau das Falsche.
Sie setzen schon auch andere Akzente als die Bundesgrünen. Die formulieren etwa in der Griechenlandfrage und Eurokrise durchaus vorsichtiger.
Wir Grünen haben schon immer sehr klar gesagt, dass die Sparpolitik der letzten Jahre nicht aus der Krise führen wird und Investitionen nötig sind. Aber ja, wenn Du die europäische Perspektive aus der parlamentarischen Arbeit hast und wie ich auch viel in Spanien, Griechenland, Portugal unterwegs bist und die Situation der Menschen siehst, dann ist das als Anliegen noch einmal präsenter.
Man hat den Eindruck, die nationalen Perspektiven in Europa überwiegen in Folge der Eurokrise derzeit immer mehr. Gibt es in Brüssel oder Straßburg noch echte Europäer?
Es ist schwierig, das will ich nicht verschweigen. Aber es gibt auch viele jüngere Abgeordnete, die in der Generation Erasmus ganz selbstverständlich europäisch aufgewachsen sind und in verschiedenen europäischen Städten gelebt haben. Egal ob sie aus Italien, Schweden oder Großbritannien kommen, die wollen wirklich diese europäische Perspektive im Parlament vertreten. Das halte ich für eine Optimismus stiftende Perspektive.
An diesem Wochenende veranstalten Sie in Duisburg auch eine Tagung zum Thema Jugendarbeitslosigkeit und Arbeitsmigration in Europa.
Die heißt „Jugend im Exil“. Ziel ist es, mit Jugendlichen aus dem Ruhrgebiet, aber auch aus vielen anderen europäischen Ländern ins Gespräch zu kommen und zu fragen, was die Jugendarbeitslosigkeit eigentlich mit der Gesellschaft und dem Leben der Betroffenen macht. Auch in Deutschland haben wir ja Probleme, hier ist jeder Vierte unter 25 nur im Niedriglohnsektor angestellt.
Noch bis Samstag, 13. Juni 2015, findet in Duisburg die Konferenz „Jugend im Exil“ statt. Erwartet werden rund 50 junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren aus allen Teilen Europas. Sie werden gemeinsam erarbeiten, welche Hürden im gegenwärtigen Europa abgebaut werden müssen, damit junge Menschen ein freies, selbstbestimmtes Leben führen können.
Gehören solche Veranstaltungen eigentlich mit in die Jobbeschreibung einer Europaabgeordneten?
Nach meinem Verständnis besteht Politik nicht nur darin, Gesetze zu verabschieden, sondern auch, zunächst einmal Debatten anzuregen, Aktionen zu machen, auf die Straße zu gehen. Das probiere ich so gut wie es geht zu erhalten.
Sie setzen sich für die Gleichstellung von Homosexuellen ein. Haben Sie neulich das Votum in Irland gefeiert?
Ja klar, und es war auch noch der Eurovision Song Contest an dem Abend. Das war ein großer Feiertag. So ein Ergebnis in einem Land, in dem Homosexualität noch vor 22 Jahren im Strafgesetzbuch stand, war natürlich ein Riesenerfolg.
Sind die katholischen Iren jetzt weiter als wir in Deutschland?
Deutschland ist da teils einfach ein Entwicklungsland. Ich höre im Ausland immer wieder die Wahrnehmung, dass Deutschland in vielen Fragen so fortschrittlich ist. Wenn man sich die Zahlen oder die Gesetz wirklich anschaut, dann ist Deutschland bei ganz vielen Themen ganz weit hinten im europäischen Vergleich. Zum Beispiel auch bei gerechter Bezahlung von Frauen, auch bei der Repräsentation von Frauen in gesellschaftlichen Entscheidungspositionen oder bei bei der Frage der Gleichstellung beim Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare.
Der Umweltvordenker Peter Unfried hat den Grünen vorgeworfen, vor lauter Minderheitenpolitik wirklich wichtige Themen wie den Klimawandel zu vernachlässigen.
Klimaschutz und Energiepolitik sind natürlich grüne Kernthemen. Aber es hilft nicht, Klimapolitik, Frauen- und Migrationspolitik gegeneinander auszuspielen. Es braucht eine gemeinsame Politik, eben damit Klimaschutz oben auf der Agenda steht.