Tausende Menschen müssen aus Afghanistan gerettet werden – Merkel: „Erleben bittere Stunden“

Afghanistan

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan herrschen Chaos und Panik im Flughafen von Kabul. Tausende Menschen sollten nach Einschätzung der Bundesregierung das Land dringend verlassen.

Doha

16.08.2021, 05:58 Uhr / Lesedauer: 4 min
Pakistanische Soldaten überprüfen die Papiere von Menschen, die die Grenze zu Afghanistan an einem Grenzübergang überqueren. Ein Sonderflug der nationalen pakistanischen Fluggesellschaft PIA ist mit 329 Passagieren aus Kabul in Islamabad eingetroffen.

Pakistanische Soldaten überprüfen die Papiere von Menschen, die die Grenze zu Afghanistan an einem Grenzübergang überqueren. Ein Sonderflug der nationalen pakistanischen Fluggesellschaft PIA ist mit 329 Passagieren aus Kabul in Islamabad eingetroffen. © picture alliance/dpa/AP

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat angesichts der faktischen Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan von „bitteren Stunden“ gesprochen. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur machte die scheidende Regierungschefin am Montag in einer Sitzung des CDU-Präsidiums deutlich, wie wichtig die gerade angelaufene Aktion der Bundeswehr zur Rettung von deutschen Staatsangehörigen, Angehörigen der Botschaft und Ortskräften sei.

Deutschland will 10.000 Menschen aus Afghanistan ausfliegen

In einer anschließenden Sitzung des größeren CDU-Vorstands sagte Merkel laut Teilnehmerkreisen, die Bundesregierung habe vor Monaten bereits 2500 Ortskräfte in Afghanistan identifiziert. Bei 600 davon wisse man derzeit nicht, ob sie in Drittstaaten seien.

Weitere 2000 Menschen habe die Bundesregierung identifiziert, die ebenfalls ausreisen sollten, wie etwa Menschenrechtler und Anwälte. Insgesamt gehe es bei dieser Gruppe um 10.000 Menschen, da die Familienmitglieder mitgerechnet würden. Man habe auch die Hilfsorganisationen vor Ort weiterhin unterstützen wollen, betonte Merkel. Dies sei nun schwierig.

Die Kanzlerin wurde aus den Teilnehmerkreisen weiter mit den Worten zitiert: „Wir evakuieren nun in Zusammenarbeit mit den USA die Menschen. Ohne die Hilfe der Amerikaner könnten wir so einen Einsatz nicht machen.“

AKK: Evakuierungseinsatz der Bundeswehr so lange wie möglich

Die Bundeswehr wird ihren Evakuierungseinsatz in Afghanistan nach Angaben von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) so lange wie irgend möglich fortsetzen. „So lange es möglich ist, wird die Bundeswehr so viele Menschen wie möglich aus Afghanistan rausholen und die Luftbrücke aufrecht halten“, sagte Kramp-Karrenbauer am Montag nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur aus Teilnehmerkreisen in Beratungen des CDU-Vorstands in Berlin. Dies hänge aber an der Unterstützung der Amerikaner, den Flughafen von Kabul offen zu halten.

Die Bundeswehr habe ihre Ortskräfte mit notwendigen Papieren ausgestattet, sagte Kramp-Karrenbauer demnach weiter. Viele seien in der vergangenen Woche mit regulären Flugzeugen nach Deutschland gekommen. Was die Ortskräfte der Bundeswehr angehe, sei man auf gutem Wege gewesen. Schwieriger sei die Lage für die Hilfsorganisationen vor Ort. Die Ministerin betonte, die Lage werde stündlich neu analysiert. Es gebe einen intensiven Austausch mit den US-Streitkräften.

Chaotische Zustände und Schüsse auf dem Flughafen in Kabul

Derweil versuchen Tausende Menschen auf dem Flughafen, einen Platz in einem Evakuierungsflugzeug zu bekommen. Das berichtet die Nachrichten-Agentur AFP. Es herrschten chaotische Zustände, ein auf Twitter gepostetes Video der ARD-Auslands-Korrespondentin Natalie Amiri zeigt dies, es fallen Schüsse. Offenbar versuchen die US-Streitkräfte, die Lage mit Schüssen in die Luft die Lage unter Kontrolle zu bekommen.

Wie Amiri schreibt, liefern sich im Flughafen US-Kräfte mit den Taliban einen Schusswechsel. „Wir hören Schusswechsel“, schreibt sie. Tausende Zivilisten sind teilweise bis auf das Rollfeld gelangt, sie versuchen in Panik, die Flugzeuge zu besteigen.

Deutsche Botschaftsmitarbeiter in der Nacht ausgeflogen

In der Nacht zu Montag landeten nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug in Doha im Golfemirat Katar. An Bord der Maschine waren auch vier Angehörige der Schweizer Vertretung in Afghanistan.

Die militant-islamistischen Taliban hatten in den vergangenen Tagen in einem rasanten Tempo eine Stadt nach der anderen teilweise kampflos eingenommen, waren am Sonntag auch in die Hauptstadt Kabul eingedrungen und haben bereits den Präsidentenpalast in ihrer Kontrolle. Die Bundesregierung hatte angesichts der dramatischen Lage am Freitag entschieden, das Botschaftspersonal auf ein Minimum zu reduzieren. Am Sonntag wurden alle Mitarbeiter zum Flughafen gebracht, der von tausenden US-Soldaten abgesichert wird.

Der erste Evakuierungsflug wurde mit einer US-Maschine absolviert, da die Bundeswehr erst in der Nacht zu Montag Transportmaschinen vom Typ A400M vom niedersächsischen Wunstorf aus nach Kabul losschicken wollte. Sie sollen in den nächsten Tagen zentraler Bestandteil einer „Luftbrücke" sein, über die neben den Botschaftsmitarbeitern auch andere deutsche Staatsbürger sowie Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder Bundesministerien in Afghanistan gearbeitet haben oder noch arbeiten, nach Deutschland gebracht werden sollen.

Mehr als 100 Deutsche - Zahl der Ortskräfte unklar

Die Gesamtzahl deutscher Staatsbürger, die bis Sonntag noch in Kabul waren, wurde auf mehr als 100 geschätzt. Um wieviele Ortskräfte es geht, war bis zuletzt unklar. Es ist auf jeden Fall eine Zahl im vierstelligen Bereich. Alleine in der staatlichen Entwicklungshilfe waren zuletzt noch 1100 Afghanen in deutschem Auftrag tätig. Hinzu kommen tausende ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr oder der Bundesministerien.

Die A400M-Maschinen der Bundeswehr, die Platz für 114 Passagiere bieten und über besonderen Schutz gegen Angriffe beispielsweise mit Raketen verfügen, fliegen die Betroffenen in ein „Drittland" aus, das von der Bundesregierung aus Sicherheitsgründen noch nicht genannt wird. Von dort geht es mit zivilen Maschinen weiter nach Deutschland.

Fallschirmjäger sichern ab

Die Evakuierungsaktion wird von Fallschirmjägern der Division Schnelle Kräfte der Bundeswehr unterstützt, die eine Spezialausbildung für solche Einsätze hat. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hatte den Einsatz am Sonntag als gefährlich bezeichnet. „Wir sind auf alle Szenarien eingerichtet", sagte sie.

Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte, dass die Machtübernahme der Taliban unmittelbar bevorstehe. In dieser Situation müsse die Sicherheit der deutschen Staatsangehörigen und der afghanischen Mitarbeiter der vergangenen Jahre «oberste Priorität haben.

Nach Angaben von Maas wird ein „operatives Kernteam" der Botschaft in Kabul am militärisch gesicherten Teil des Flughafens bleiben, um die Arbeitsfähigkeit der Botschaft zu erhalten und um die weiteren Evakuierungsmaßnahmen mit begleiten zu können. Das eigentliche Botschaftsgebäude wurde geschlossen.

Bundeswehreinsatz: Kabinett legt Mandat vor

„Wir setzen jetzt alles daran, unseren Staatsangehörigen und unseren ehemaligen Ortskräften eine Ausreise in den kommenden Tagen zu ermöglichen", sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). „Die Umstände, unter denen das stattfinden kann, sind aber derzeit schwer vorherzusehen." Deshalb stehe die Bundesregierung auch in einem engen Austausch mit den USA und anderen internationalen Partnern.

In der Kabinettssitzung an diesem Mittwoch soll das Mandat für den Bundeswehreinsatz beschlossen werden. Darüber unterrichtete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntagabend die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen telefonisch, wie die dpa aus Teilnehmerkreisen erfuhr. In der darauffolgenden Woche soll dann der Bundestag darüber beraten und entscheiden.

Am 25. August kommt das Parlament ohnehin zu einer Sondersitzung zusammen, um die Hilfen für die Hochwassergebiete zu beschließen. Dann soll auch der Evakuierungseinsatz auf die Tagesordnung kommen. Bei Gefahr im Verzug können bewaffnete Bundeswehreinsätze wie in diesem Fall auch nachträglich vom Parlament mandatiert werden.

dpa/kar