Statt Babyklappe? Über 800 vertrauliche Geburten in Deutschland

Kinder

Babyklappen verstoßen gegen das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Seit 2014 gibt es deshalb die Möglichkeit der vertraulichen Geburt. Wie werden die beiden Angebote angenommen?

Berlin

23.02.2021, 08:19 Uhr / Lesedauer: 5 min
Nicht jede Mutter kann oder will für ihr Kind da sein. Dafür gibt es Angebote wie die Babyklappe und die vertrauliche Geburt.

Nicht jede Mutter kann oder will für ihr Kind da sein. Dafür gibt es Angebote wie die Babyklappe und die vertrauliche Geburt. © picture alliance/dpa

In Brandenburg setzte am 8. Februar eine junge Frau ihr Baby aus, täuschte anschließend bei der Polizei vor, ein fremdes Kind gefunden zu haben, und versuchte dadurch, ihre Mutterschaft zu verschleiern. Solche Fälle kommen in Deutschland immer wieder vor – dabei haben Schwangere, die sich nicht als Mutter ihres Kindes zu erkennen geben möchten, längst andere Möglichkeiten. Wie eine Umfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) ergab, wird dabei die gesetzeskonforme vertrauliche Geburt deutlich häufiger genutzt als die umstrittenen Babyklappen – die aber ebenfalls nach wie vor in jedem Bundesland genutzt werden.

Im Jahr 2000 wurde in Hamburg die erste moderne Babyklappe eingerichtet. Bis heute sind die Klappen umstritten und von keinem Gesetz gedeckt, also faktisch illegal – werden aber geduldet. Kontrollen unterliegen sie nicht. Seit 2014 gibt es deshalb mit der vertraulichen Geburt eine legale und gesetzlich verankerte Alternative, bei der die Identität der Mutter mindestens 16 Jahre lang verdeckt bleibt.

Kann die vertrauliche Geburt die Babyklappen ersetzen? Und wie viel Resonanz erfahren die beiden Angebote? Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat bei den Sozialministerien der 16 Bundesländer nachgefragt. Die Umfrage zeigt: Die vertrauliche Geburt wird in allen Bundesländern angenommen, Babyklappen existieren aber weiterhin.

212 Kinder in sechs Bundesländern in Babyklappen geborgen

Aus der Umfrage geht hervor, dass es in jedem Bundesland mindestens eine Babyklappe gibt, insgesamt sind es etwa 86 Stück bundesweit. In Nordrhein-Westfalen gibt es mit 24 Stück die meisten Klappen, in Bremen, dem Saarland und Brandenburg gibt es jeweils nur eine Möglichkeit, ein Kind anonym abzugeben – und in Brandenburg ist die Einrichtung derzeit geschlossen.

Da es für Babyklappen keine Meldepflicht gibt, werden weder bundes- noch landesweit Daten über diese Form der Kindesabgabe erfasst. Dennoch konnten einige Bundesländer Zahlen dazu nennen. So wurden in Baden-Württemberg von 2001 bis 2017 insgesamt 90 Babys in den acht Klappen abgegeben, in Rheinland-Pfalz von 2000 bis 2018 insgesamt 46. In Bremen gibt es nur ein Körbchen, in dem in den letzten zehn Jahren 24 Babys gefunden wurden, genauso viele wurden in Sachsen-Anhalt gezählt, in Hamburg waren es im gleichen Zeitraum 21 Babys. Im Saarland gaben nur sieben Mütter in den letzten zehn Jahren ihr Kind ab. Insgesamt wurden demnach allein in sechs Bundesländern innerhalb von 19 Jahren 212 Babys in Klappen gefunden.

Anders als die Kindesabgaben in Babyklappen werden vertrauliche Geburten dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) gemeldet. Demnach gab es seit der Einführung im Jahr 2014 bundesweit 827 vertrauliche Geburten. Die Zahlen steigen laut Aussage des BAFzA stetig an.

Die Umfrage des RND zeigt, dass die meisten dieser Geburten in NRW zu verzeichnen sind. Von 2015 bis 2019 kamen 146 Kinder auf diese Weise in dem Bundesland zur Welt. In Bayern gab es in den Jahren 2014 bis 2019 77 Fälle. Darauf folgt das Bundesland Hessen, in dem laut hessischem Sozialministerium durchschnittlich zehn dieser Geburten pro Jahr stattfinden. In Schleswig-Holstein wurde die Möglichkeit von 38 Frauen genutzt. Schlusslicht ist das Saarland: Dort wurden seit der Einführung erst sechs vertrauliche Geburten durchgeführt.

Vertrauliche Geburt als legale Alternative

Da Babyklappen keine rechtliche Grundlage haben, sind sie in Deutschland umstritten. Durch die anonyme Abgabe verstoßen die Mütter gegen das im Grundgesetz verankerte Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Dazu kommt, dass sich Mütter bei einer unbeaufsichtigten Geburt selbst in Gefahr bringen können.

Kritiker bestreiten zudem, dass Babyklappen Kindstötungen verhindern können. Laut Terre des Hommes seien die Motivationen von Frauen, die ihre Kinder töteten, völlig konträr zu denen, die ihr Kind in eine Babyklappe legten. Wenn Frauen oder Männer ihre Kinder umbrächten, sei das eine reine Verzweiflungstat. Wer das Kind in eine Babyklappe lege, wolle, dass es überlebt.

Für den Deutschen Ethikrat überwogen diese Argumente bereits 2009, er forderte damals die Abschaffung der Babyklappen und riet zu einem „Gesetz zur vertraulichen Kindesabgabe mit vorübergehend anonymer Meldung“.

Im Jahr 2014 folgte der Bundestag dem Vorschlag und schuf die Möglichkeit der vertraulichen Geburt – allerdings nicht als Ersatz, sondern als legale Alternative zur Babyklappe.

Neben dem Wunsch der Schwangeren, ihre Identität zu verbergen, werden dabei auch die Rechte des Kindes berücksichtigt: Die Frau gibt bei der Geburt ihre Daten an, diese werden jedoch unter Verschluss beim BAFzA aufbewahrt. Erst 16 Jahre nach der Geburt kann das Kind einen Herkunftsnachweis beantragen. Möchte die Mutter dann weiter anonym bleiben, kann sie sich an ein Gericht wenden. In bestimmten Fällen wird die Anonymität gewahrt.

Recht auf Herkunft nicht wichtiger als Recht auf Leben

Die Babyklappen existieren neben der Möglichkeit der vertraulichen Geburt weiter. Heidi Kaiser, Mitgründerin der ersten Babyklappe Deutschlands, betonte gegenüber dem RND, wie wichtig das Recht auf Kenntnis der eigenen Herkunft sei. Sie stellte aber auch klar, dass dieses Recht erst greifen könne, wenn das Recht auf Leben erfüllt wurde. Deshalb werde die Wärmeklappe in Hamburg weiterhin für die Säuglinge bereitgehalten, „deren Leben sonst in Gefahr ist“.

Auch das Bundesfamilienministerium lehnt die Abschaffung der Babyklappen ab. Eine Sprecherin erklärte: „Es gibt nach wie vor Frauen, die die vertrauliche Geburt nicht kennen oder sich nach eingehender Beratung bei einer Schwangerschaftsberatungsstelle trotzdem für eine Babyklappe entscheiden. Zum Schutz ihres Kindes ist das Angebot an Babyklappen deshalb weiterhin für verzweifelte Frauen von Bedeutung.“ Rechtliche Regelungen für diese Form der anonymen Kindesabgabe plane die Bundesregierung derzeit nicht.

Überblick über Babyklappen und Anzahl der vertraulichen Geburten in den Bundesländern

In Baden-Württemberg gab es im Jahr 2017 acht Babyklappen. Seit Einrichtung der ersten Babyklappe im Jahr 2001 wurden dort bis 2017 insgesamt 90 Babys abgegeben. Neuere Daten lagen dem Sozialministerium nicht vor. Von 2014 bis einschließlich 2019 gab es in dem Bundesland 47 vertrauliche Geburten.

Zehn Babyklappen existieren derzeit in Bayern. Wie viele Neugeborene dort bereits abgegeben wurden, konnte das Bayerische Sozialministerium nicht angeben. In den Jahren 2014 bis 2019 gab es in Bayern 77 vertrauliche Geburten.

In Berlin gibt es fünf Babyklappen. Auf die Anfrage des RND antwortete der Senat für Gesundheit nicht.

In Brandenburg gibt es eine Babyklappe, die jedoch derzeit geschlossen ist. Das Sozialministerium reagierte nicht auf die Anfrage des RND.

Ein Babykörbchen gibt es in Bremen, in welchem in den letzten zehn Jahren 24 Babys abgegeben wurden. Durchschnittlich gibt es in dem Bundesland im Jahr drei bis vier vertrauliche Geburten. Eine Gesamtzahl konnte der Senat für Gesundheit nicht angeben.

In Hamburg gibt es vier Babyklappen, in denen seit 2010 insgesamt 21 Kinder abgelegt wurden. 2020 wurde dort ein Baby abgegeben. Seit der Einführung der vertraulichen Geburt bis September 2020 nutzten 18 Mütter den Weg der vertraulichen Geburt.

Drei Babyklappen zählt das Bundesland Hessen. Angaben, wie viele Kinder dort abgegeben wurden, konnte das Ministerium nicht machen. Anhand der Anträge, die nach einer vertraulichen Geburt gestellt werden müssen, lasse sich auf die Zahl der Fälle schließen. Durchschnittlich seien dies zehn Fälle pro Jahr.

Laut Kenntnis des Sozialministeriums gibt es in Mecklenburg-Vorpommern zwei Babyklappen. Es gebe keine Daten, wie häufig diese genutzt werden. Seit 2014 soll es in Mecklenburg-Vorpommern etwa 14 vertrauliche Geburten gegeben haben.

Dem Sozialministerium sind insgesamt fünf Babyklappen in Niedersachsen bekannt. Angaben darüber, wie diese in Anspruch genommen werden, konnte das Ministerium nicht machen. Ebenso lagen dem Land keine Zahlen über vertrauliche Geburten vor.

In Nordrhein-Westfalen gibt es etwa 24 Babyklappen. Das Sozialministerium konnte keine Angaben dazu machen, wie viele Kinder dort bereits abgegeben wurden. Von 2015 bis 2019 gab es in dem Bundesland 146 vertrauliche Geburten.

Sechs Babyfenster stehen zurzeit in Rheinland-Pfalz zur Verfügung. Dort wurden von 2000 bis 2018 46 Kinder abgegeben. Vertrauliche Geburten gab es im Jahr 2014 zwei, 2019 waren es neun. In dem Zeitraum wurden insgesamt 33 Kinder auf diese Weise zur Welt gebracht.

Im Saarland gibt es eine Babyklappe. In den letzten zehn Jahren wurden sieben Babys in der Babyklappe abgelegt. In einem Fall hat sich die Kindsmutter nach Beratung dazu entschieden, das Kind zu behalten. Die anderen sechs Kinder wurden in Adoptivfamilien vermittelt. Seit 2014 gab es im Saarland bislang sechs vertrauliche Geburten.

In Sachsen gibt es fünf Babyklappen, dem Sozialministerium liegen jedoch keine Daten dazu vor, wie viele Kinder dort bereits abgegeben wurden. Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der vertraulichen Geburt haben in dem Bundesland 41 vertrauliche Geburten stattgefunden.

Laut Sozialministerium gibt es drei Babyklappen in Sachsen-Anhalt. Von 2010 bis 2019 wurden 24 Kinder dort abgegeben. Im Jahr 2020 wurden sechs vertrauliche Geburten bekannt, wobei drei Kinder zur Adoption vermittelt wurden und zwei Kinder zurück zu den leiblichen Eltern gingen. Von 2014 bis 2020 wurde das Angebot der vertraulichen Geburt 20-mal in Anspruch genommen.

Bekannt sind dem Sozialministerium fünf Babyklappen in Schleswig-Holstein. Das Sozialministerium habe keine Erkenntnisse über den Betrieb und die Inanspruchnahme von Babyklappen in Schleswig-Holstein. Von 2014 bis 2020 gab es in dem Bundesland 38 vertrauliche Geburten, bei zwei Geburten wurde die Vertraulichkeit jedoch wieder aufgehoben.

In Thüringen sind drei Babyklappen bekannt. Angaben zu vertraulichen Geburten konnte das Sozialministerium nur für die Jahre 2014 bis 2017 machen. In dem Zeitraum wurden fünf Kinder auf diese Weise zur Welt gebracht.

RND