Solidarität und blinder Hass: das komplizierte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Polizei
Verbrechen
Der Mord an zwei Polizisten erschüttert Deutschland. Von einer Welle der Solidarität und Anteilnahme spricht der Polizeipräsident. Gleichzeitig wächst die Gewalt gegen Einsatzkräfte seit Jahren.

Michael Denne, Polizeipräsident des Polizeipräsidiums Westpfalz, sitzt bei einer Pressekonferenz. Am Vortag wurden eine Polizistin und ein Polizist bei der Durchführung einer Verkehrskontrolle erschossen. © picture alliance/dpa
Es war ein Routineeinsatz, eine einfache Kontrolle und eine Eskalation, mit der sie nicht rechnen konnten: Eine Polizeianwärterin und ein Polizist, beide mit einem Kopfschuss in Kusel in Rheinland-Pfalz getötet, als sie zwei Wilderer auf frischer Tat ertappten. „Wer eine Bewerbung bei der Polizei abgibt, weiß, dass man im Dienst getötet werden kann“, sagt die Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Rheinland-Pfalz, Sabrina Kunz, „aber man schiebt das weit von sich.“
Die Todesgefahr, sie rutscht mit den Dienstjahren wohl auch zum Selbstschutz ins Unbewusste.
Jeden Tag riskieren Polizisten und Polizistinnen in Deutschland ihr Leben. Sie wissen es, sie werden in der Ausbildung darauf vorbereitet, dass es im schlimmsten Fall im Tod endet. Das ist eher selten, Übergriffe auf Polizeikräfte sind es aber nicht – die Zahl steigt seit Jahren.
36.126 Fälle von „Widerstand gegen und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen“ gegen insgesamt 69.466 Polizistinnen und Polizisten wurden 2019 registriert. Im Schnitt werden 200 Beamtinnen und Beamten am Tag tätlich angegriffen, meldet das Bundeskriminalamt.
Gewalt gegen die Polizei: Wenn ein Routineeinsatz eskaliert
In den vergangenen 15 Jahren wurden sechs Polizisten und zwei Polizistinnen bei Einsätzen tödlich verletzt. Das vorige Mal, dass in Rheinland-Pfalz ein Polizist getötet wurde, war 2010, beim Einsatz eines Spezialkommandos, das die Wohnung eines Hells-Angels-Mitglieds stürmte. Am Montag war es eine Zivilstreife, die vermutlich auf ein am Straßenrand geparktes Auto stieß. Die beiden Polizeikräfte, 24 und 29 Jahre alt, hatten keine Chance, sie wurden nach bisherigen Erkenntnissen regelrecht hingerichtet.

Ein Kranz sowie Blumen und Kerzen liegen am Tatort an der Kreisstraße 22 bei Ulmet (Rheinland-Pfalz) zum Gedenken. © picture alliance/dpa
„Der Fall ist ein Weckruf, es erschüttert uns in den Grundfesten“, sagt Polizist Pierre Weingarten von der Jungen Gruppe der GdP. In 99 von 100 Fällen verliefen Kontrollen der Streifenkräfte problemfrei, sagt Weingarten. „Es gibt da schon die Erwartung, dass wir bei normalen Kontrollen die Leute nicht wie Schwerverbrecher behandeln“, so der Nordrhein-Westfale. „Wir wollen hier keine Verhältnisse wie in den USA, wo die Leute erst einmal aus dem Auto gezogen werden, während die Polizei die Waffen geladen hat.“
Auch Kunz sagt, dass Polizistinnen und Polizisten bei solchen Einsätzen nicht davon ausgehen könnten, dass sie in eine derart gefährliche Situation kämen.
GdP: „Keine Schutzmaßnahme hätte ihren Tod verhindern können“
In den Polizeischulen werden sie ausgebildet, bekommen Ethikunterricht, Waffentraining, Einsatztraining. Doch: „Kein Training ist vergleichbar mit der Realität“, sagt Kunz. Besonders die vermeintlichen Routineeinsätze würden eine Gefahr bergen, denn nie wissen die Beamtinnen und Beamten, auf welche Situation sie treffen. Ist die Person einsichtig, empfänglich für Worte? Oder sitzt da jemand im Auto, der oder die frustriert, gereizt oder gar gewaltbereit ist?
Noch sind die Ermittlungen zu den Todesschüssen von Kusel nicht abgeschlossen, noch ist unklar, welche Konsequenzen die Polizei daraus ziehen wird. Aber Kunz sagt: „Ich gehe davon aus, dass die Kollegen nicht besser ausgebildet, nicht besser ausgestattet hätten sein können. Keine Schutzmaßnahme hätte ihren Tod verhindern können.“
So sieht das auch Michael Denne, Polizeipräsident des Präsidiums Westpfalz. „Die Frage stellen wir uns alle, was man anders machen kann, in Training und Konzepten. Ich komme in diesem Fall zu dem Schluss, dass man nichts hätte anders machen können. Das ist nicht blöd oder schiefgelaufen. Es ist ein Ereignis, das allein der kriminellen Energie zweier Täter geschuldet ist.“ Auch in Zukunft sei das nicht zu vermeiden.
Frust und Ärger über den Staat führt zu Gewalt gegen Polizeikräfte
Seit Jahren ist eine Zunahme von Gewalt gegen Polizeikräfte zu beobachten. „Wir merken seit zehn, 15 Jahren schon, dass die Menschen anders auf Polizisten zugehen“, sagt Kunz. „Wir werden anders wahrgenommen in der Bevölkerung.“ Viele Menschen seien frustriert, über ihr Leben, ihren gesellschaftlichen Rang, derzeit auch über die Corona-Regeln, von „multikausalen Ursachen“ spricht Kunz. „Wir Polizisten sind dann, auch optisch, quasi die Ansprechpartner für den Staat. Wenn die Leute ein Ventil brauchen, um Luft abzulassen, passiert das bei uns.“
Nur wenige Stunden nach Bekanntwerden der Tat von Kusel zeigt sich das Ausmaß. Bei einer Verkehrskontrolle in Hagen sagte ein Mann zu Polizisten: „So etwas wie heute Morgen in Rheinland-Pfalz sollte euch viel öfter passieren.“ Dann würden sich die Polizisten nicht mehr wie „die Könige der Welt aufführen“, heißt es in einer Polizeimitteilung.
Kein Einzelfall: Auch in sozialen Medien gab es Beifallsbekundungen für die Täter, Angebote, ihnen bei der Flucht zu helfen. „Das ist eine abscheuliche Entwicklung und menschenverachtend“, sagte Frank Gautsche, Leiter der Kriminaldirektion Kaiserslautern, dazu. Diesen Beiträgen würde man genau wie jenen, die die Opfer verhöhnten, nachgehen.
Polizisten im Einsatz: Die Person in der Uniform wird nicht mehr als Mensch wahrgenommen
Von der GdP heißt es, man arbeite viel an Kommunikationsmethoden, daran, wie Sprache deeskalieren kann, damit aus banalen Situationen im Alltag keine lebensgefährlichen Momente werden. Doch die Hemmschwellen, Gewalt gegen Staatsangestellte auszuüben, sei zuletzt gesunken. „Der Staat wird an sich abgelehnt, und wir als Vertreter dann auch“, sagt Kunz.
Die Corona-Pandemie habe die Situation verstärkt, der Frust sitze tief, man sehe es daran, wie die Menschen miteinander umgingen – und mit Einsatzkräften.
Von einer „Verrohung der Gesellschaft“ spricht Weingarten. „Die Polizei wird als verlängerter Arm des Staates wahrgenommen. Der Protest richtet sich nicht unbedingt gegen die Polizei, sondern gegen die Politik. Die Person hinter der Uniform wird gar nicht wahrgenommen“, sagt er. Die Polizei sei ein „Prellbock der Gesellschaft“. Es gibt deshalb Kampagnen, um die Menschen, die in den Uniformen stecken, präsenter zu machen und zu zeigen. Um zu verdeutlichen: Da übt jemand seinen Job aus, das, wofür er ausgebildet wurde. Er oder sie findet das möglicherweise auch gerade falsch, dennoch macht er es. So soll der Respekt wiederhergestellt werden.
Oberstaatsanwalt: Vollzugsorganen schlägt manchmal blinder Hass entgegen
Der leitende Oberstaatsanwalt in Kaiserslautern, Udo Gehring, findet deutliche Worte. Er erlebe bei der Polizei „eine Kultur der Vernunft und eine Kultur der Höflichkeit, was das Verhältnis zum Bürger betrifft. Ich bringe das nicht zusammen mit dem blinden Hass, der den Vollzugsorganen manchmal entgegenschlägt.“
Er glaubt nicht, dass die Polizei durch ihr Verhalten provoziere, sondern: „Ich gehe davon aus, dass dieser blinde Hass, der zum gesellschaftlichen Problem geworden ist, eine andere Ursache hat, die wir angehen müssen.“
Sind die Ursachen tatsächlich Frust, Respektverlust und eine generell gestiegene Gewaltbereitschaft? Immer wieder wird der Polizei auch vorgeworfen, unverhältnismäßig zu agieren. Das Bekanntwerden von rechtsextremen Chatgruppen war nicht vertrauensbildend. Zudem kursieren Videos von Polizeigewalt, von Beamten, die schlagen und treten. Sind das noch Einzelfälle?
Seit Jahren wird kritisiert, wie die Polizei bisweilen bei Demonstrationen vorgeht: Während „Querdenkerinnen“ und „Querdenker“ bisweilen unbehelligt aufmarschieren dürfen – erst am Wochenende stürmten Protestierende ein Psychiatriegelände in Leipzig –, sind Einsätze wie bei Protesten gegen Stuttgart 21, als Wasserwerfer auf die Gesichter von Personen gerichtet wurden, unvergessen.
Polizeitaktische Entscheidungen sind nicht immer für alle nachvollziehbar
„Für Außenstehende sind polizeitaktische Entscheidungen nicht immer leicht zu verstehen“, sagt Weingarten. Man müsse den Einzelfall betrachten. Manchmal könne es sinnvoller sein, eine Situation laufen zu lassen, um eine völlige Eskalation zu vermeiden. Der Grat zwischen „Die Polizei macht nichts“ und „Die Polizei ist zu hart“ sei schmal. „Es ist in jedem Fall ein Abwägen, denn wir wissen, dass eine polizeiliche Entscheidung zum Kippen einer Situation führen kann“, sagt der Polizist.
Klar sei allen: Eine Aktion der Polizei führe oft zu Reaktionen. „Dann muss sich die Polizei der Kritik stellen“, sagt Weingarten. Er plädiert dafür, gegenseitig mehr Verständnis zu haben.
Dass die Polizei unangemessen Gewalt ausübe, hat Oberstaatsanwalt Gehring schon öfter gehört. „Wir untersuchen diese Vorfälle und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Vorfälle zu einem großen Teil nicht durch die Polizei provoziert, sondern ideologisch bestimmt und gegen den Staat als solchen gerichtet sind.“ Wenn sich solche Kritik ohne Grundlage aber verbreite, „kann das gefährlich werden“ – zumal, wenn in einer Gesellschaft die Hemmschwelle ohnehin sinke und der Staat als Hassobjekt gesehen werde.
Polizei berichtet über „unfassbare Solidarität und Anteilnahme“
Im Fall von Kusel war es wohl kein Hass auf Polizisten, kein Hass auf den Staat. Die Ermittlerinnen und Ermittler gehen davon aus, dass die beiden Tatverdächtigen eine Straftat vertuschen wollten: Sie hatten zahlreiche illegal erlegte Wildtiere bei sich, mindestens einer der beiden soll illegal gewerblich mit dem gewilderten Fleisch gehandelt haben.
Auch weil das Motiv so absurd erscheint – zwei Menschen zu töten, um einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren aus dem Weg zu gehen –, bestürzt die Tat von Kusel. Gleichsam mit der Gewalt wuchs in Deutschland auch die Solidarität mit den Beamtinnen und Beamten, die diesen Angriffen ausgesetzt sind. „Wir erleben momentan eine unfassbare Welle der Solidarität und Anteilnahme.“ Es habe sowohl von Privatpersonen als auch von Organisationen in Deutschland und ganz Europa Beileidsbekundungen gegeben.
Ein Fall, der zeigt, wie niedrig die Hemmschwelle ist
Pierre Weingarten hat selbst noch keine solche Eskalation erlebt, aber ein Kollege wurde im vergangenen Jahr angeschossen. Auch dabei handelte es sich um eine übliche Fahrzeugkontrolle. Der Beifahrer griff plötzlich zu einer Waffe und schoss gezielt auf die Brust des Polizisten. Gerade erst gab es neue schusssichere Westen, weil die Ausstattung der Polizei wegen der Terrorbekämpfung aufgestockt wurde.

Polizeibeamte stehen an einer Absperrung an der Kreisstraße 22 rund einen Kilometer von dem Tatort an dem zwei Polizeibeamte durch Schüsse getötet wurden. © picture alliance/dpa
Der Kollege, berichtet Weingarten, habe nur Hämatome erlitten. Durch Seelsorge und Gesprächsangebote innerhalb der Polizei habe er seine Berufslaufbahn fortsetzen können – noch immer fährt er Streife. Auch in Kusel und Rheinland-Pfalz erhalten die Kolleginnen und Kollegen der getöteten Polizeikräfte psychologische und seelsorgerische Unterstützung, wenn sie das wünschen.
Ein Fall wie in Kusel ist selten, aber unvermeidbar, da sind sich Experten einig. Aber der Fall sagt auch etwas über das Verhältnis von Polizei und Bürgerschaft. Kunze fordert, dass die Gesellschaft sich mit dem Gewaltpotenzial auseinandersetzt. „Wir sind an einem gesellschaftlichen Punkt, wo wir überlegen müssen, wie wir leben wollen. Wollen wir wieder zusammenfinden und den gesellschaftlichen Umgangston anpassen – oder wollen wir noch weiter auseinanderdriften?“
Der Artikel "Solidarität und blinder Hass: das komplizierte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Polizei" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.