Solidarität mit Belgien, aber nicht mit der Türkei - ist das so?
Antworten eines Psychologen
Schwarz, Gelb, Rot - nach den Anschlägen von Brüssel hat der Dortmunder U-Turm in den belgischen Nationalfarben geleuchtet. Für den Ausdruck von Solidarität gab es Lob, aber auch Kritik. Viele fragten sich, warum nach den Anschlägen in Istanbul keine türkische Fahne am U-Turm zu sehen war. Wird mit zweierlei Maß gemessen? Wir haben einen Kulturpsychologen gefragt.

Der U-Turm als Belgier: Das Dortmunder Wahrzeichen leuchtete am Dienstagnachmittag in den belgischen Nationalfarben schwarz-gold-rot.
Es gehört schon dazu, zur traurigen Geschichte der Terroranschläge der jüngsten Vergangenheit. Kaum sind die Schreckensnachrichten bekannt, wird im Internet Betroffenheit ausgedrückt. Wird Mitgefühl und Solidarität bekundet, werden Wut und Trotz Luft gemacht. Per Twitter, per Facebook, per Instagram.
#PrayersForBelgium ?? por Bruselas. pic.twitter.com/oGIKaW01s6
— TINI (@TiniStoessel)
Politiker treten vor die Mikrofone, sprechen ihr Beileid, aber auch ihre Entschlossenheit aus, sich nicht unterkriegen zu lassen. Gerade seit den Anschlägen von Paris im vergangenen November beleuchten viele Städte ihr Wahrzeichen in den Nationalfarben des Landes, das von den Anschlägen getroffen wurde.
In #SolidarityWithBrussels & #Belgium: The #BrandenburgGate is lit up the colors of the Belgian flag. #Brusselspic.twitter.com/wnjqn1ohIG
— GermanForeignOffice (@GermanyDiplo)
Der U-Turm in den Farben Belgiens
Auch Regisseur Adolf Winkelmann, verantwortlich für die fliegenden Bilder am Dortmunder U-Turm, ein Wahrzeichen der Stadt, ließ am Dienstag die Farben der belgischen Flagge am Turm erscheinen. Nach dem Selbstmordanschlag vom 19. März in der Türkei, bei dem fünf Menschen starben, war allerdings keine türkische Halbmondflagge zu sehen. Nicht am U. Nicht am Brandenburger Tor. Auf der Facebook-Seite dieses Online-Portals hagelt es dafür Kritik:
"Solidarität mit allen Ländern der Welt, nicht nur mit westlichen Ländern. Gerade in Dortmund, wo ein großer Anteil von türkischen Migranten lebt, hätte man ein Zeichen setzen müssen, bei Anschlägen in der Türkei.", schreibt LisaSchbe beispielsweise.
"Verstehe ich auch nicht. In Belgien ist es sehr schlimm, aber in der Türkei war es ebenso schlimm. Wenn der U-Turm seine Solidarität mit Belgien zeigt sollen sie auch Solidarität mit der Türkei bzw. Der Welt zeigen...", kritisiert Maurice Wagner.
Ursachen sind in unserer Kultur verwurzelt
Manche Nutzer sprechen von "Heuchelei" und davon, dass es schade sei, wenn bei Terroranschlägen zwischen Ländern und Religionen unterschieden werde.
Schade, aber erklärbar, sagt Lars Allolio-Näcke, Kultur- und Religionspsychologe aus Erlangen. "Das Phänomen ist immer wieder das gleiche: Paris oder jetzt Brüssel sind uns näher als die Türkei." Das liege ganz tief verwurzelt in unserer Kultur. Es sei Ausdruck unserer europäischen Identität und der Werte des christlichen Abendlandes, dass wir betroffener sind, wenn etwas in Brüssel passiert, als wenn es in Istanbul geschieht.
Ganz anders entscheide der Deutsche übrigens, wenn es um seinen Urlaub geht, sagt der Kulturpsychologe Allolio-Näcke. "Für Urlaub und Freizeit ist die Türkei super, weil billig und warm", sagt er. Da sei einem das Land plötzlich nahe. Dass es kein Rechtsstaat sei, spiele keine große Rolle mehr. So funktioniere der Mensch. "Er kann sich in verschiedenen Lebensbereichen ganz unterschiedlich verhalten."
Experten wie Allolio-Näcke bezeichnen dieses Verhalten auch als "kognitive Geografie": Die Verbindung zu etwas ist umso größer und enger, je positivere Erfahrungen man damit gemacht hat. "Und das gilt eben auch für Länder und Werte", erklärt Allolio-Näcke.
Die Nähe werde dabei nicht rein an Kilometern festgemacht. Brüssel und Paris sind den Deutschen zwar wirklich räumlich näher als Istanbul. "Aber auch ein Anschlag in Amerika trifft uns mitunter heftiger als einer in der Türkei", sagt der Psychologe. Obwohl Amerika von den Kilometern her viel weiter entfernt ist. Doch Amerika sei auch eine Demokratie im unserem Sinne, die Türkei sei keine. "Zudem wird die muslimische Welt generell gerade als Bedrohung gesehen", sagt Allolio-Näcke.
Experte: "Wie Menschen zweiter Klasse"
Die Kritik an diesem Verhalten begegne dem Experten immer wieder auch bei seiner Arbeit als Lehrender. Viele türkischstämmige Studierende ärgerten sich über die geringe Betroffenheit und Aufmerksamkeit hierzulande für die Türkei. "Muslime fühlen sich wie Menschen zweiter Klasse", sagt Allolio-Näcke. Und er könne die Kritik gut verstehen - schließlich leben in Deutschland viele Türken oder Deutsche mit türkischen Wurzeln.
Adolf Winkelmann selbst wurde am Dienstag auch überrascht von der Kritik an seiner Fahnen-Aktion, wie er sagt. Immer wieder habe sein Handy geklingelt, immer wieder wurde bemängelt, dass er nur die belgische, nicht aber die türkische Flagge gezeigt habe. "Wir wollten am Dienstag einfach nur spontan Solidarität mit Belgien zeigen, damit aber auf keinen Fall die Türkei hinten anstellen", versucht er zu erklären.
Von Kind auf aufgesaugt
Vielleicht hat auch bei Winkelmann letztlich die kognitiven Geografie gegriffen. Doch was kann man tun? "Aus seinem Verhaltensmuster kommt der Mensch nicht einfach raus. Das sind Dinge, die wir von Kind auf aufgesaugt haben", sagt der Experte Allolio-Näcke. Wir könnten uns nur immer wieder zwingen, genau zu überlegen, wie man auf Ereignisse wie die Anschläge reagieren sollte, um auch den Empfindungen der vielen muslimischen Mitbürger gerecht zu werden.
Allolio-Näcke:"Man müsste sich eine Agenda setzen à la: So haben wir bei Paris reagiert, so müssten wir jetzt auch bei Istanbul reagieren." Das gelte für Aktionen wie Solidaritätsbekundungen, das gelte aber auch für die Arbeit der Medien. Das sei eine der großen Herausforderungen der Integration. "Einfach ist das nicht, aber Integration ist Arbeit", sagt der Psychologe.
Rein bildlich ist Integration schnell zu realisieren. So wurde dieses Bild verbreitet:
In the shadow of death do not look back to the past, but seek in utter darkness the dawn of God #PrayersForBelgiumpic.twitter.com/UCrqhALBEA
— Forgotten Heroes (@FHF1419)
Aber auch dieses:
my heart goes out to everyone #PrayForTheWorld#PrayersForBelgiumpic.twitter.com/3dXJyvyGM1
— mariana (@espinosalimit)