Sexueller Missbrauch und Korruption Erschreckender Bericht über SOS-Kinderdörfer

Sexueller Missbrauch und Korruption: Erschreckender Bericht über SOS-Kinderdörfer
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Kinder, die glücklich miteinander spielen, behütet von mütterlichen, väterlichen, rundum wohlgesinnten und fürsorglichen Erwachsenen, die Mädchen und Jungen in einem Klima der Zuneigung und Wertschätzung aufwachsen lassen – was sich im Kopf bei der Nennung des Begriffs SOS-Kinderdorf abspielte, war bis vor Kurzem wie Fünfzigerjahrekino. Ein untrübbares Refugium der heilen Welt.

2021 ergab ein von der Dachorganisation SOS-Kinderdorf International extern in Auftrag gegebener 34-seitiger Untersuchungsbericht ein anderes Bild. Es war erschreckend: Missbrauchsfälle in SOS-Einrichtungen in vier Ländern wurden damals dokumentiert.

Damals hatte die britische Kinderschutzorganisation Keeping Children Safe im Auftrag von SOS-Kinderdörfer Einrichtungen der Organisation untersucht und Beweise für „alle Varianten körperlichen, sexuellen und emotionalen Missbrauchs“ gefunden, die unter der Obhut von SOS-Kinderdörfer stattgefunden hatten. Das Risiko von Kindeswohlgefährdung sei „nicht in genügendem Maße berücksichtigt worden“, man habe „Kinder somit dem Missbrauch ausgesetzt“.

Ein ernüchterndes Fazit für eine Organisation, durch deren Wirken Kinder doch gerade vor solchen Misshandlungen und solchem Unrecht bewahrt werden sollen. Bestätigt wurde, dass die Mehrheit der gemeldeten Vorfälle – eine genaue Zahl gibt es nicht – vor dem Jahr 2011 gelegen habe und die SOS-Kinderdörfer seither viele Schritte zu einem besseren Kinderschutz unternommen hätten.

Statt aber nur die Betroffenen um Verzeihung zu bitten, strukturelle Besserung zu geloben und sich über das moralische Attest von Keeping Children Safe zu freuen, ging die Organisation in die Offensive und stellte einen „Aktionsplan Kinderschutz“ auf.

Kommission inspiziert SOS-Kinderdörfer in elf Ländern

Die vorrangigste Maßnahme war es, im Oktober 2021 eine unabhängige Expertenkommission mit einer deutlich umfangreicheren und detaillierteren Untersuchung zu beauftragen. Deren gut 264-seitiger „Summary Report“, bei dem jeder einzelne gemeldete Vorfall überprüft wurde, liegt seit Mittwoch, 7. Juni, vor. Nicht enthalten sind die Vorgänge in Russland, wo zuletzt in einer Einrichtung der SOS-Kinderdörfer ukrainische Kinder aufgetaucht waren, die zu Propagandazwecken instrumentalisiert wurden.

Unter dem Vorsitz des Sozialreformers und früheren Obersten Richters von Kenia, Willy Mutunga, und der früheren Obersten Richterin des indischen Bundesstaats Jammu und Kaschmir, Gita Mittal, ging das Gremium zwei Jahre lang jedem einzelnen der in der Vergangenheit angezeigten Vorfälle nach.

Die Kommission führte Vorortinspektionen von Einrichtungen der SOS-Kinderdörfer in Indien, Nepal, Kambodscha, Kenia, Panama, Sierra Leone, Syrien sowie Ländern des Regionalen Büros Asien durch, prüfte Tausende Dokumente, interviewte 188 Personen zum Thema – ehemalige und gegenwärtige Mitarbeitende sowie mutmaßliche Opfer. Zum Schutz der Opfer wurden alle Vorfälle durch die Kommission dann so stark anonymisiert, dass keine Ableitungen möglich sind.

Es habe, so der Bericht, an einer „Überprüfung und Aufsicht der Führung gemangelt“, was zu einem Umfeld geführt habe, „in dem zu wenig Rechenschaftspflicht und Kontrolle“ stattfand. Was die Kommission über Vorfälle recherchiert hat, die sich hauptsächlich zwischen 2000 und 2020 ereigneten, zum Teil aber bis in die 1980er-Jahre zurückreichen, liest sich durchaus erschütternd.

Einschüchterung, Missbrauch, Schwangerschaften und Abtreibungen

Der Wahrheitsgehalt der Aussagen mutmaßlicher Opfer von sexueller Gewalt sei infrage gestellt worden, „wodurch sie weiter viktimisiert und retraumatisiert“ worden seien. Es sind Fälle dokumentiert, in denen sexueller Missbrauch durch Mitarbeitende vertuscht wurde. Wer Informationen über Missbrauch und Missstände gab, sei oft nicht angemessen geschützt worden. Von „Einschüchterung und Vergeltung“ ist die Rede.

Der Bericht erwähnt auch „zahlreiche Schwangerschaften (…) infolge von sexuellem Missbrauch oder sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Jugendlichen oder unter Jugendlichen“. In einigen Fällen, so der Untersuchungsbericht, seien Mädchen zu Schwangerschaftsabbrüchen genötigt worden.

Korruptionsvorwürfe wurden absichtlich nicht untersucht

Darüber hinaus wurden Betrugs- und Korruptionsvorwürfe untersucht, „die absichtlich nicht verfolgt wurden, was zu Straffreiheit in allen Teilen der Organisation führte“. Des Weiteren: Machtmissbrauch, Geldwäsche, Unregelmäßigkeiten bei Auftragsvergaben, „insbesondere bei großen Bauprojekten im Wert von Millionen von US-Dollar“.

Die Kluft zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden müsse sich schließen, so die Kommission. Die Föderation der SOS-Kinderdörfer sei „immer noch eurozentrisch“.

Ziel ist die Wiederherstellung des Vertrauens durch eine Kultur der Integrität

Immer wieder aufzufrischende Schulungen von Mitarbeitern in Kinderschutz werden den SOS-Kinderdörfern von der Kommission empfohlen, eine umfassendere Ressourcenausstattung für Schutzaufgaben. Bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen sei ein „opferorientierter Ansatz“ zwingend, der „das Wohlergehen und die Wiederherstellung der Betreffenden während des gesamten Prozesses von Meldung, Untersuchung und Lösung“ sicherstellt – Transparenz, Kontrolle, Fairness.

Mitgefühl und Rechenschaftspflicht sind weitere Schlagworte des Berichts. Ziel sei die Wiederherstellung des Vertrauens in die Organisation und ihre Führung durch eine Kultur der Integrität und des ethischen Verhaltens.

Kommission: „Die bedeutsame Mission von SOS-Kinderdorf muss weitergehen“

Denn, was der Report auch herausstellt, es ist der unbedingte Wille der SOS-Föderation zur Aufarbeitung des Vergangenen und zur Erneuerung festzustellen. Man habe seitens der Kommission eine „umfassende Verbreitung von Reforminitiativen festgestellt, die Entwicklung einer neuen Politik, von Regeln und Verfahren“, die indes an der Basis noch nicht vollständig angekommen seien.

„Die bedeutsame Mission von SOS-Kinderdorf muss weitergehen“, heißt es im Resümee der Kommission. Und man würdige, „dass insgesamt positive Veränderungen stattfinden“. Angemahnt wird aber auch, dass „der Druck, die Organisation insgesamt zu reformieren, bestehen bleiben muss“.

Organisation etabliert Whistleblowing-Plattform und Ombudssystem

Entsprechend wird von den SOS-Kinderdörfern der „Aktionsplan Kinderschutz“ vorangetrieben. Unter anderem hat man eine „Whistleblowing-Plattform“ geschaffen, um künftig Fehlverhalten und Missstände in SOS-Kinderdörfern melden zu können. Derzeit wird ein umfassendes Ombudssystem aufgebaut. Externe Ombudsleute unterstützen Personen, die im SOS-Bereich Unrecht erfahren haben. Bis Ende 2024 sollen Standards für individualisierte Unterstützung im Missbrauchsfall in allen SOS-Kinderdörfern implementiert sein.

Die Föderation wandelt sich, arbeitet derzeit auch an einer neuen Satzung, in der „neue Prozesse definiert werden, um die Einhaltung unserer Richtlinien zu kontrollieren und zu gewährleisten“. Die soll bereits auf der SOS-Generalversammlung im Juli 2023 zur Abstimmung gebracht werden.

„Wir bitten alle Betroffenen um Entschuldigung“

Eine Veränderung bei den Mitarbeitenden und Schutzbefohlenen ist bereits zu spüren. „Was wir sagen können, ist, dass sich auf die Aufrufe der Kommission verstärkt Opfer und Mitwissende nach vorne getraut haben und von Vorfällen berichten.“ Lägen diese auch weit in der Vergangenheit, tief in den 80er-Jahren, so sollen die Betroffenen dennoch alle Unterstützung erfahren, die sie brauchen.

„Die Arbeit der Kommission begrüßen wir sehr und stehen uneingeschränkt hinter den Ergebnissen des Berichts, so schmerzhaft sie auch sind“, sagt Lanna Idriss, Vorständin der SOS-Kinderdörfer weltweit. „Wir sind tief erschüttert, dass Kinder und Jugendliche in unserer Obhut Leid erfahren mussten und bitten alle Betroffenen um Entschuldigung. Dies ist durch nichts zu verzeihen.“ Die Verantwortung den Betroffenen gegenüber habe höchste Priorität. „Wir tun alles uns Mögliche, um sie zu unterstützen.

Die Rolle der Whistleblower und Gesprächspartner der Kommission sei bewundernswert. „Für ihren Mut sind wir zutiefst dankbar. Dieser ermöglicht es uns, die notwendigen Schritte zu gehen, um unsere Organisation weiterzuentwickeln.“

SOS-Kinderdorf, 1949 gegründet, ist die weltweit größte Organisation, die sich für Kinder und Jugendliche einsetzt, die ohne elterliche Fürsorge leben oder deren familiäre Situation bedroht ist. In mehr als 130 Ländern und Regionen werden die Minderjährigen betreut und versorgt, werden Familien gestärkt. Auch in von Krieg verheerten Ländern wie Syrien und der Ukraine oder dem seit Kurzem von massiver Gewalt geprägten Sudan ist SOS tätig. Die Arbeit der SOS-Kinderdörfer erreicht weltweit mehr als 2,5 Millionen Menschen.

Für 2024 wird nun bei SOS-Kinderdorf der Bericht einer Kommission erwartet, die Missbrauch und Fehlverhalten in SOS-Kinderdörfern in Deutschland untersucht und aufarbeitet. Der heute vorgelegte Bericht ist vollständig online zu finden.

RND

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