Schülerstreiche im Digitalunterricht: Von „verstörenden Erfahrungen“ bis zu Straftaten
Coronavirus
Mit lauter Musik die digitale Schulstunde sprengen oder per Klick den Lehrer stummschalten: Schülerstreiche gibt es auch im Homeschooling - aber manche überschreiten deutlich Grenzen.

Auch digitaler Unterricht bietet Möglichkeiten für Schülerstreiche - einige gehen jedoch zu weit. (Symbolbild) © picture alliance/dpa
Das „Ich-bin-blöd“-Klebezettelchen am Rücken des Lehrers oder das Furzkissen auf dem Stuhl des Mitschülers waren gestern: Doch auch im digitalen Schulalltag haben Lehrerinnen und Lehrer mit Störern und Schülerstreichen zu kämpfen. Vieles, was möglicherweise lustig gemeint ist, stößt jedoch Kollegien und Schulleitungen zunehmend übel auf. Mancherorts wurden nach massiven Störmanövern Videokonferenzen zeitweise ausgesetzt, in Elternbriefen ist von erheblichen Persönlichkeitsverletzungen und verstörenden Vorfällen die Rede.
„Videokonferenzen sind für uns ein wichtiges Angebot, aber sie bieten ein großes Potential für Unfug“, berichtet beispielsweise Axel Rotthaus, Schulleiter des Städtischen Gymnasiums Gütersloh. Wiederholt war der Einladungslink für die digitalen Unterrichtstreffen offenbar in fremde Hände gelangt, die dann die Schulstunde torpedierten, in dem sie dem Lehrer den Ton abstellten oder laute Musik einspielten. Die Konferenzen mussten mehrfach abgebrochen und zeitweise ganz ausgesetzt werden. Nach technischen Umstellungen, könnten sich nur noch eigene Schüler einwählen.
Videos von Lehrern oder Mitschülern landen oft bei Tiktok
Ein weiteres Problem reißt ein Elternbrief aus Gütersloh an: „Schnell mal die Videokonferenz aufnehmen, weil ein Mitschüler oder eine Lehrkraft gerade lustig schaut?“. Ohne Zustimmung der Person, handele es sich um eine Straftat, heißt es in Reaktion auf einen Vorfall, bei dem ein solches vermeintlich witziges Filmchen im Videoportal Tiktok hochgeladen wurde.
Ähnliches erlebten auch Lehrer des Maximilian-Kolbe-Gymnasiums in Wegberg bei Mönchengladbach. Hier klinkten sich Unbekannte in den Onlineunterricht der Mittelstufe ein, störten mit lauter Musik und obszönen Worten. Die verdatterte Reaktion der Lehrer landete im Netz. „Bei sowas sieht ja jeder erstmal blöd aus. In den sozialen Medien ist es dann ein gefundenes Fressen“, sagt Schulleiterin Maj Kuchenbecker.
Für ihre Kollegen sei das eine „in höchstem Maße verstörende Erfahrung“ gewesen. Kuchebecker berichtet von üblen Beleidigungen und deutlichen Persönlichkeitsverletzungen. Die Schule zog die Notbremse, stoppte vorläufig alle Videokonferenzen und will sie nun besser gegen anonyme Eindringlinge absichern.
Lehrer „so ziemlich auf sich alleine gestellt“
Der Lehrer und Fachberater für Jugendmedienschutz Günter Steppich kennt das Phänomen, das derzeit bundesweit auftrete. Insbesondere bei Tiktok gebe es massenhaft Accounts, in denen Nutzer anbieten, nach Herausgabe von Zugangslinks und etwaigen Passwörtern, Digitalunterrricht zu torpedieren - und dies dann tun.
Man könne sich leicht gegen diese erwartbaren Attacken schützen: „Das ist wie beim Abistreich, wenn die Absolventen mit Wasserpistole durchs Schulgebäude ziehen und die Räume verwüsten. Da kann ich als Lehrer auch entscheiden, ob ich die Tür offen lasse oder nicht“, sagt der Experte für Medienerziehung aus Hessen.
Die meisten Konferenz-Tools verfügten über Warteraum-Funktionen, mit denen Lehrer steuern könnten, wer dabei ist und wer nicht. „So etwas müssen sich allerdings im Moment die meisten Lehrkräfte selbst beibringen. Im Umgang mit digitalem Unterricht sind sie so ziemlich auf sich alleine gestellt“, sagt er.
Schüler mit teils kreativen Ideen, wie sie dem Unterricht entgehen können
Ein Problem, denn Lehrer seien Studien zufolge unterdurchschnittlich technikaffin, an Unis nehme das Thema noch immer geringen Raum ein und die Vielzahl der angebotenen Plattformen sei unübersichtlich. Vielem, was den Jugendlichen an digitalen Späßen einfiele, könne man aber mit normalem pädagogischem Geschick und Gelassenheit begegnen, beruhigt Steppich.
„Was nützt es, wenn ich vor laufender Webcam ausflippe und mich dann so bei Tiktok wiederfinde. Bei vielen Ideen der Schüler muss man auch einfach Humor beweisen“, sagt er. Sie entwickelten mitunter große Kreativität, um sich vor dem Unterricht zu drücken.
Der eine stelle ein so geschickt geschnittenes Video von sich selbst in Dauerschleife als Hintergrund ein, dass der Lehrer gar nicht bemerke, dass er längst was anderes mache. Die andere täusche mit hochgeladenen Sanduhr-Gifs oder simulierten Ruckelbildern Netzprobleme beim Homeschooling vor. „Das sind halt pubertierende Jugendliche“, sagt Steppich.
„Schulstreiche gibt es, solange es Schulen gibt“
Einig sind sich Lehrerverbände und Schülervertreter, dass der Umgang mit Störungen zum Schulalltag gehöre, gleichwohl Grenzen zu achten seien: „Die Versuchung mal ein Mikro abzudrehen ist groß, wenn das technisch geht. Aber gerade wenn sich das gegen Mitschüler richtet, ist das natürlich nicht okay, sondern Mobbing“, stellt Johanna Bögermann aus dem Vorstand Landesschüler*innenvertretung NRW klar. Darauf müssten Lehrer reagieren, sensibilisieren und notfalls eben technisch dafür sorgen, dass solche Dinge nicht passieren können.
Ähnlich bewertet auch die Nordrhein-Westfälische Schulministerin die Situation: „Schulstreiche gibt es, solange es Schulen gibt. Aber es gibt natürlich Grenzen“, teilt Yvonne Gebauer (FDP) auf Anfrage mit. Ihr Appell für den „Distanzunterricht in dieser schwierigen Pandemiezeit: „Mit schützenswerten persönlichen Daten darf kein Unfug getrieben werden. Persönlichkeitsrechte sind gerade bei Videokonferenzen zu beachten.“ Auch der virtuelle Klassenraum sei ein geschützter Raum, mahnt sie. Sie sei sich sicher, dass sich dabei alle ihrer Verantwortung bewusst seien.
dpa