Schlacht um jeden Meter Wie sich die Ukraine an die russische Hauptverteidigungslinie herankämpft

Schlacht um jeden Meter: Wie sich die Ukraine an die russische Hauptverteidigungslinie herankämpft
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Eine Woche nach Beginn der Großoffensive hat die Ukraine nach eigenen Angaben mehrere Dörfer an der Front westlich von Donezk befreit. Videoaufnahmen zeigen, wie Soldaten die ukrainische Flagge über dem Dorf Blahodatne, südlich der Stadt Welyka Nowosilka, hissten. Dort verläuft eine der Hauptachsen der bisherigen Offensive.

Ukrainische Soldaten einer anderen Brigade filmten sich etwa 40 Kilometer weiter westlich mit dem Banner ihrer Einheit in Neskuchne und auch das nahegelegene Dorf Makarivka hat die ukrainische Armee offenbar zurückerobert. Vizeverteidigungsministerin Hanna Malyar bestätigte am Montag zudem die Befreiung des Nachbarortes Storoschewe durch ukrainische Einheiten.

„Die Nationalflagge weht wieder über Storoschewe und so wird es mit jeder Ortschaft sein, bis wir die ukrainische Erde völlig befreit haben“, schrieb sie auf Telegram. An Stellen, an denen die ukrainischen Streitkräfte in der Defensive seien, habe man zudem keine Positionen verloren.

Nach Angaben des Sprechers der ukrainischen Ostgruppe, Oberst Serhiy Cherevaty, seien die Soldaten auch an der Front bei Bachmut zuletzt um etwa 1400 Meter vorgerückt. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.

Tag für Tag kleine Rückeroberungen bei Offensive

Es sind täglich ein bis zwei Kilometer, die ukrainischen Einheiten in der Donbass-Region Donezk vorrücken. „Rückeroberungen im Donbass bringen die Ukraine strategisch aber nicht weiter“, gibt Nato-General a.D. Hans-Lothar Domröse im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) zu bedenken. „Wenn sie einen Kilometer in zwei Tagen machen, ist das angesichts der riesigen Gebiete in russischer Hand noch kein durchschlagender Erfolg.“ Viel wichtiger sei es, die Landverbindung der Russen zur Krim abzuschneiden, indem man in Richtung Mariupol und Melitopol am Asowschen Meer vorstößt.

Der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) attestierte in den Regionen Donezk und Saporischschja „visuell verifizierte Fortschritte“ der ukrainischen Armee und erklärte, dass Russland diese Fortschritte zwar bestätige, aber herunterspiele. Wenn ukrainische Einheiten die Verteidigungslinien durchbrechen, werde dies verschwiegen. Die ukrainischen Streitkräfte haben bisher aber nur die erste Linie erreicht. Von der russischen Hauptverteidigungslinie, die auf Satellitenbildern gut zu erkennen ist, sind die ukrainischen Einheiten noch etwa 15 bis 20 Kilometer entfernt.

Die Militärstrategen des ISW in Washington erkennen anhand der russischen Berichte über ukrainische Angriffe in Saporischschja ein Muster: Die ukrainischen Streitkräfte können demnach zwar begrenzte Durchbrüche erzielen und vorübergehend neue Stellungen besetzen, werden dann aber von russischen Streitkräften zurückgeschlagen und aus den Gebieten wieder vertrieben.

Minenräumpanzer in der Ukraine unter Beschuss

Russische Drohnenaufnahmen aus dem Süden der Ukraine zeigen auch, dass die Ukraine offenbar drei Minenräumpanzer vom Typ Leopard 2R verloren hat. Zuvor hatte Finnland der Ukraine sechs dieser Fahrzeuge für die Offensive geliefert. „Die Russen greifen gezielt Minenräumfahrzeuge an und haben offenbar verstanden, welche Ausrüstung der Ukraine für die Offensive entscheidend ist“, so Nato-General a.D. Domröse.

Die Russen haben im Süden große Gebiete vermint und die Ukraine ist für ihre Offensive auf Minenräumfahrzeuge angewiesen. „Dass nun einige Minenräumfahrzeuge zerstört wurden, ist schmerzlich, aber einen Angriff ohne Verluste gibt es nicht“, sagt Domröse. Er macht deutlich, dass die Ukraine bei den sich abzeichnenden Verlusten weitere Unterstützung durch den Westen benötige, von Minenräumfahrzeugen bis zu Flugzeugen, von Munition bis zu Raketen und Drohnen mit großer Reichweite.

Einige Brigaden der Ukraine sind bisher noch nicht im Einsatz gesichtet worden und nach Einschätzung von US-General-Leutnant a.D. Ben Hodges steht der Großangriff dieser Hauptphase noch aus. „Bisher haben wir noch keinen Angriff mit mehreren hundert Panzern und Schützenpanzern erlebt,“ erklärt er. Eines der Ziele der Großoffensive ist aus seiner Sicht nach wie vor die Rückeroberung der von Russland besetzten Halbinsel Krim.

„Wenn der Westen alles bereitstellt, was die ukrainischen Streitkräfte brauchen, insbesondere Langstrecken-Präzisionswaffen, dann erwarte ich immer noch, dass die Ukraine die Krim, das entscheidende Terrain dieses Krieges, bis zum Ende dieses Sommers befreien kann, also bis Ende August.“

Nachdem Großbritannien der Ukraine bereits Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow geliefert hat, könnten die USA mit ATACMS-Raketen (bis zu 300 Kilometer Reichweite) nachziehen. „Das würde der Offensive einen enormen Schub verleihen“, so Hodges.

Partisanenangriffe nicht zu unterschätzen

Militärökonom Marcus Keupp von der Militärakademie der ETH Zürich rechnet dagegen nicht mit einem solchen Großangriff. „Es ist ein Irrglaube im Westen, dass es einen großen, romantischen Hauptangriff geben wird“, sagt er dem RND. Das ukrainische Militär verfolge die Strategie der „Tausend Bienenstiche“ und greife an mehreren Achsen gleichzeitig an.

Außerdem warnt er davor, die Bedeutung der Partisanenangriffe zu unterschätzen. Erst am Montag gab es zwei Angriffe auf die letzten verbliebenen Eisenbahnlinien, die für Russland von enormer Bedeutung sind. Sie zielten auf die Logistiklinie von der Krim ab, über die Russland Nachschub an die gesamte Südfront verteilt. „Jetzt ist diese Verbindung unterbrochen und die Russen stehen vor einem Problem.“

RND

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