Zugunglück in Recklinghausen Vater spricht über Reha seines Sohns und denkt über Klage nach

Nach dem Zugunglück: Vater berichtet über Reha-Beginn seines Sohns Amir
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Von Alltag kann bei Familie El-Jaddouh längst noch nicht die Rede sein. Wie auch? Jeder Zug, der in nur 60 Meter Entfernung hinter dem Wohnhaus im Stadtteil Hillerheide vorbeirattert, löst bei Fadi El-Jaddouh unweigerlich etwas aus: „Wenn hier ein Zug entlangfährt, muss ich jedes Mal an dieses schreckliche Unglück denken“, sagt der Vater von Amir. Der Neunjährige war am 2. Februar von einem Güterzug erfasst und schwer verletzt worden. Sein zehnjähriger Begleiter kam bei der Kollision ums Leben.

Der Schock begleitet den Vater aber auch, wenn er keinen Zug hört. Vor dem Haus steht das Fahrrad von Amir. Er habe es seinem Sohn erst vor Kurzem gekauft, sagt El-Jaddouh. Dass sein Spross eines Tages wieder in die Pedale treten kann, ist nicht sicher. In der Reha müsse Amir erst wieder sprechen und laufen lernen. Der vierfache Familienvater (44) hat sich auf einem Zettel notiert, was bei Amir im Kopf „kaputtgegangen“ ist: Corpus callosum. „Das ist die Verbindung zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte“, weiß der Reifenhändler. Das hätten ihm mehrere Ärzte und Chirurgen erklärt.

Ein kleiner Junge steht mit grauem Anzug und weißem Hemd grinsend in einem Festsaal in Recklinghausen.
Dieses Foto von Amir entstand wenige Wochen vor dem Zugunglück bei einer Feier. © Privat

„Verletzung, die man nicht operieren kann“

„Das ist eine Verletzung, die man nicht operieren kann“, fährt El-Jaddouh fort. Das Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen habe ihn in Kooperation mit dem Bergmannsheil Buer eingeladen, um ihm noch einmal die Diagnose und die Auswirkungen zu erklären. Nach dem Zugunglück war Amir in der ans Bergmannsheil angeschlossenen Kinder- und Jugendklinik notoperiert und anschließend behandelt worden. Die Einrichtung in Gelsenkirchen ist spezialisiert auf Kinderneurochirurgie. Auch der Chefarzt der Klinik sei bei der Besprechung dabei gewesen. „Die Ärzte vom Knappschaftskrankenhaus haben ihn und sein Team gelobt und betont, dass sie für meinen Sohn alles getan haben, was sie konnten“, sagt El-Jaddouh. Davon sei er selbst zwar auch überzeugt, er danke den Chirurgen von ganzem Herzen, aber er klammere sich in seiner Verzweiflung an jeden Strohhalm: „Ich suche einen Spezialisten. Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt ja einen – jetzt oder in der Zukunft.“

Das Corpus callosum wird auch Hirnbalken genannt. Etwa 200 Millionen Fasern, so ist zu lesen, ermöglichen den Informationsaustausch zwischen den beiden Gehirnhälften. Was eine Schädigung dieses Balkens ausmacht, wird deutlich, als El-Jaddouh aktuelle Videos von Amir zeigt, aufgenommen von seiner Frau, die ihrem Sohn seit dem 2. Februar nicht von der Seite gewichen ist, erst im Krankenhaus und seit Dienstag (21.2.) beim Reha-Aufenthalt in einer Einrichtung im Ruhrgebiet. Eines der Videos zeigt Amir in einer Art Rollstuhl liegend, daneben sein vierjähriger Bruder Rashid. „Steh mal auf“, fordert dieser ihn spielerisch auf. Amir scheint das zwar zu registrieren, er wendet sein augenscheinlich unversehrtes Gesicht dem Vierjährigen zu. Aber er bleibt stumm.

Fadi El-Jaddouh, Vater des bei einem Zugunglück in Recklinghausen schwer verletzten Neunjährigen, hält ein Smartphone in die Kamera, auf dessen Display ein Foto seines Sohnes zu sehen ist.
Fadi El-Jaddouh fragt sich immer wieder: „Warum hat Amir den Zug nicht gehört? Wo waren seine Ohren?“ © Jörg Gutzeit

Amir kann nicht sprechen und nicht laufen

In einem zweiten Video ist Amir liegend in einem Bett zu sehen. Der Neunjährige versucht, sich darin aufzurichten. „Komm, du schaffst das“, ermuntert ihn seine Mutter. Der Junge bewegt seinen Körper sekundenlang unkoordiniert hin und her, bis er halbwegs aufrecht sitzt. „Ich hoffe, er kommt in sein Leben zurück“, sagt sein Vater. Die Angst um sein Kind bestimme nun sein Leben. Er versuche, sich selbst wieder aufzubauen, gehe auch wieder arbeiten. Seine Frau, erzählt El-Jaddouh, esse und schlafe sehr wenig. Wie lange Amirs Reha-Aufenthalt dauern werde, stehe noch nicht genau fest, aber die Ärzte würden von zwei bis drei Monaten ausgehen.

Der 44-Jährige spielt auf seinem Smartphone ein weiteres Video ab. Zu sehen ist Amir mit zwei Freunden, darunter auch der beim Zugunglück getötete 10-Jährige. „Der ist jetzt im Himmel, der Arme“, sagt El-Jaddouh leise. Im Video fragt er die Kinder, was sie später werden wollen. „Fußballer oder Polizist“, antwortet ein putzmunterer und lachender Amir. Wenige Tage später ist die Welt nicht mehr, wie sie war. Fadi El-Jaddouh legt ein Diagnose-Dokument vor, das die Horror-Verletzungen von Amir auflistet: schweres Schädel-Hirn-Trauma mit multiplen Schädelfrakturen, Schädelbasis-Fraktur, axonales Schertrauma zweiten Grades (Corpus callosum), Thoraxtrauma mit beidseitigem Pneumothorax bei beidseitigen Rippenserienfrakturen.

Fadi El-Jaddouh, der Vater des bei einem Zugunglück in Recklinghausen schwer verletzten 9-Jährigen, zeigt auf einen Wall, hinter dem Bahngleise liegen.
Fadi El-Jaddouh bleibt dabei: Kindern und Jugendlichen werde es zu leicht gemacht, zu den Gleisen zu gelangen. Er überlegt, ob er die Deutsche Bahn deshalb verklagen soll. © Jörg Gutzeit

Vater gibt Bahn Teilschuld am Unfall

„Ich gebe der Deutschen Bahn eine Teilschuld am Unfall meines Sohnes“, sagt der 44-Jährige. Er fordert, dass Gleise konsequent eingezäunt werden. Er habe gelesen, dass die Bahn in einem Statement mitgeteilt habe, dass sie das nicht umsetzen könne, weil das gesamte Schienennetz längenmäßig zweimal den Äquator umrunden würde. „Es geht mir doch nur um Wohngebiete“, sagt El-Jaddouh. Aber auch die Rodungsarbeiten der Deutschen Bahn kritisiert er. Würden Sträucher gekappt und Bäume gefällt, gebe es keine natürlichen Hindernisse mehr, die Kinder und Jugendliche davon abhalten könnten, in die Nähe der Gleise zu gelangen. „Und da drüben ist ein Sportplatz – dort sind immer Kinder!“, zeigt El-Jaddouh in Richtung Vereinsgelände ETG Recklinghausen. Er sehe auch die Politik in der Pflicht, auf die Bahn einzuwirken, um wenigstens in Wohngebieten Gleisbereiche einzuzäunen.

Fadi El-Jaddouh denkt darüber nach, die Deutsche Bahn zu verklagen: „Aber erstmal will ich meinen Sohn wieder bei mir haben, dann sehe ich weiter.“ Und immer wieder stelle er sich diese Fragen: „Warum hat Amir den Zug nicht gehört? Wo waren seine Ohren?“ Sein Sohn wird ihm bis auf Weiteres keine Antworten darauf geben können.

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