In ihrer Verzweiflung hat sich die Familie des Jungen, der bei dem Zugunglück in Recklinghausen am 2. Februar schwer verletzt wurde, an diese Redaktion gewandt. Amir heißt der neunjährige Sohn von Fadi El-Jaddouh. Er wird in einem Krankenhaus außerhalb von Recklinghausen behandelt. „Mein Sohn ist in einer stabilen Lage, sagen die Ärzte“, erzählt El-Jaddouh, dessen Familie seit neun Jahren in einem Haus auf der Hillerheide lebt – in unmittelbarer Nähe der Bahngleise. Aber die Kopfverletzungen des Jungen seien schwer, sehr schwer. Amirs Gehirn sei geschwollen. Die Ergebnisse des MRT, das am Dienstag gemacht worden sei, wären nach der Nachricht über das Unglück ein zweiter Schock für die Familie gewesen.
Mutter schläft bei Sohn im Krankenhaus
„Das sind die schlimmsten Tage meines Lebens“, sagt El-Jaddouh. „Meine Frau schläft jeden Tag im Krankenhaus bei meinem Sohn.“ Im Koma befinde sich Amir nicht, „aber er erkennt uns nicht und er sieht uns nicht“. Alles, was er im Krankenbett von sich gebe, sei ein leises Stöhnen, immer wieder. Der im Libanon geborene Vater zeigt ein Foto seines neunjährigen Kindes auf seinem Smartphone. Es zeigt einen lächelnden Amir bei einer Feier, in einem grauen Anzug, mit weißem Hemd und schwarzer Fliege. El-Jaddouh bricht in Tränen aus, küsst das Bild seines Sohnes. „Ya rab“, sagt er dabei schluchzend – „Bitte, Gott“ auf Arabisch.

„Wenn Amir zu spät kommt, ruft er mich an“
Amirs Schwester (16) und Bruder (13) dürfen ihr Geschwisterkind am Donnerstag (9.2.) zum ersten Mal im Krankenhaus besuchen. Die Anspannung und die Angst um ihren Bruder sind den beiden anzumerken. Das jüngste Kind der Eheleute El-Jaddouh ist vier Jahre alt und bekomme von der Tragödie nicht viel mit, sagt der Vater. „Wenn Amir zu spät kommt, ruft er mich an oder schreibt mir eine WhatsApp-Nachricht“, erzählt der Reifen- und Felgenhändler, der Geschäfte in Recklinghausen und Gelsenkirchen hat. Am Donnerstag (2.2.) aber kommt keine Nachricht. Das Smartphone seines Jungen habe noch die Polizei, so El-Jaddouh.
Beide Kinder haben vor dem Unglück in der Wohnung gespielt
Der bei dem Zugunglück getötete Zehnjährige sei ein neuer Freund von Amir gewesen. Die beiden hätten unterschiedliche Grundschulen besucht, sich aber vor knapp drei Monaten angefreundet. Die Eltern des Jungen kenne er nicht, sagt Fadi El-Jaddouh, habe die Mutter des Zehnjährigen lediglich am Abend des Unfalls gesehen. Am Tag der Tragödie hätten die beiden Kinder nachmittags noch in der Wohnung der El-Jaddouhs gespielt, später seien sie dann nach draußen gegangen.
Endgültige Gewissheit im Krankenhaus
„Ich war zu Hause, als ich von dem Unglück erfahren habe“, berichtet der Vater. Eine Nachbarin habe an der Tür geschellt und gefragt, ob seine Kinder da seien, es sollen nämlich zwei Kinder vor einen Zug gelaufen sein. „Mir ist der Himmel auf den Kopf gefallen“, erinnert sich El-Jaddouh. Etwa vier Stunden später habe die Polizei dann in einem auf der gesperrten Maybachstraße geparkten Bus erzählt, welche Kleidung die gefundenen Kinder getragen hätten. Letzte Gewissheit gab es für die El-Jaddouhs dann im Krankenhaus. Ein Rettungswagen habe sie dorthin gefahren, erzählt der Reifenhändler: „Die Ärzte haben uns die Schuhe von unserem Jungen gebracht, da wussten wir es endgültig. Meine Frau hat weinend die Schuhe umarmt.“

Vater küsst weinend ein Foto von Amir
Fadi El-Jaddouh ist ein großer, kräftiger Mann. Und er hat keine Probleme damit, über seinen Kummer und seine Angst zu sprechen. Er redet viel. Aber zwischendurch überwältigt ihn dann doch seine Trauer. Er schluchzt, er weint, küsst immer wieder das Foto seines Sohns Amir: „Komm wieder nach Hause“, sagt er leise und legt seine Stirn auf das Bild. Das Gespräch mit dieser Redaktion möchte er trotz mehrmaliger Nachfrage aber weder unterbrechen noch ganz abbrechen. Zu wichtig ist ihm das, was er der Öffentlichkeit mitteilen möchte.
Familie sucht nach Spezialisten
Und das ist in erster Linie die Bitte um Unterstützung bei der Suche nach einem Spezialisten für seinen Sohn. Er sei den Ärzten, die Amir behandeln, und vor allem der Ärztin, die den neunjährigen Schwerverletzten notoperiert hat, unendlich dankbar. Das wiederholt El-Jaddouh ein ums andere Mal. „Aber vielleicht ist es möglich, durch die Medien einen spezialisierteren Arzt zu finden.“ Er greife in seiner Not nach jedem Strohhalm. Ihm gehe es nicht um Geld, Spenden möchte seine Familie nicht haben. Von den Ärzten, die seinen Sohn behandeln, habe die Familie aber bereits erfahren, dass Amirs Zustand einen Flugtransport nicht zulasse.

„Natürlich hatte mein Junge da nichts zu suchen“
Was Fadi El-Jaddouh außerdem will: „Andere Kinder vor Zügen schützen.“ Er wisse nicht, wo sich das Unglück genau ereignet habe. Aber wie leicht man im Umfeld seines Wohnhauses auf die Bahngleise gelangen kann, das mache ihn wütend. „Ich möchte, dass die Deutsche Bahn das ändert! Das soll so nicht sein. Natürlich hatte mein Junge da nichts zu suchen, aber der Zugang ist zu einfach möglich.“ Und El-Jaddouh zeigt dieser Redaktion ein paar Stellen im Bereich des ehemaligen Bahnhofs Ost, an denen es ein Leichtes ist, ohne große Anstrengungen oder gar Klettereien den fahrenden Zügen gefährlich nahezukommen. Und Trampelpfade deuten darauf hin, dass der Weg ans Gleisbett auch regelmäßig eingeschlagen wird. „Mein ältere Sohn war auch schon an den Bahngleisen. Ich habe mit ihm geschimpft und er hat es nie wieder getan“, sagt El-Jaddouh. Dass Amir sich an den Gleisen herumtreiben könnte, habe er nicht ansatzweise geahnt.

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