„Querdenker“-Szene: Radikal und einsam
Pandemie
Wer derzeit an den „Querdenker“-Spaziergängen teilnimmt, scheint gut vernetzt zu sein. Doch Menschen, die sich radikalisieren, sind nur theoretisch vernetzt, in Wahrheit sind sie allein.

Eine Demonstrantin, die den Holocaust relativiert, wird abgeführt. © dpa
Der damalige Leiter des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen klang schon im Mai vergangenen Jahres verzweifelt. Dabei hatte die „Querdenker“-Bewegung da ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht. „Wir müssen ganz grundlegend ansetzen und uns fragen: Welche Emotionen sind die Triebfeder?“, sagte Burkhard Freier und fuhr fort: „Da ist vor allem die Angst. Nicht nur die Angst vor der Krankheit, sondern auch existenzielle Nöte, etwa Angst vor Einsamkeit.“ Wenn Menschen das Gefühl hätten, nichts tun zu können, dann böten Verschwörungsmythen ein Ventil.
Kürzlich war zu lesen, wer vor allem dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) Hassbriefe schreibe: meist Männer über 50, die alleinstehend seien. Dazu passt, dass, wenn es in den vergangenen Jahren um politische Gewalttäter ging, zunehmend von vermeintlichen oder tatsächlichen „Einzeltätern“ wie in Idar-Oberstein die Rede war. Dort schoss ein Mann den jungen Mitarbeiter einer Tankstelle nieder, weil dieser ihn um das Tragen einer Maske gebeten hatte.
Was also, wenn der Irrsinn dieser Tage und die mittlerweile nahezu täglichen „Spaziergänge“ gegen die Corona-Politik mit der Tatsache zu tun haben, dass die Irrsinnigen niemanden mehr zum Reden finden – und damit auch niemanden, der sie bremst? Indizien dafür gibt es.
Große Vernetzungen im Internet
Auf den ersten Blick wirken all die „Spaziergänge“ und Chatrooms bei Messengerdiensten wie Telegram und andernorts wie große Vernetzungen. Der Glaube an Verschwörungsmythen erscheint verbindend. Im Hintergrund ziehen tatsächlich Netzwerke Strippen.
Auf den zweiten Blick wird freilich viel Vereinzelung sichtbar. Den „kulturellen Treibstoff“ bezögen die Mitglieder der Szene aus derselben Quelle, schreibt der Journalist Nils Minkmar in der „Süddeutschen Zeitung“: „Stundenlange Solosessions vor Radikalisierungsfilmen und Chatgruppen der großen Plattformen, theoretisch vernetzt, faktisch aber ganz allein.“
Je nach Perspektive ausgelöst oder verschärft wird dieser Prozess dadurch, dass reale Vernetzung und damit echte Gespräche mit Rede und Gegenrede abnehmen, weil der Organisationsgrad nahezu überall zurückgeht: in Vereinen, Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften. Von den privaten Beziehungen in Einzelpersonenhaushalten ganz zu schweigen. Eine weitere Stufe der Vereinzelung ist das Homeoffice, forciert durch Covid-19.
Keiner ist da, der „Nein“ sagt
Minkmar schreibt: „Als der Alltag noch kommunikativ durch Großfamilie, Firma, Nachbarschaft, Kirche und Gewerkschaften geprägt war, wären die gröbsten historischen Verirrungen noch vor dem Mittagessen ausgeräumt worden. Heute hingegen werkeln viele Menschen an ihren Privatideologien wie einst Modellbauer im Hobbykeller an komplexen Holzschiffen.“ Oft ist keiner mehr da, der sagt: Nein! Großorganisationen dienten auch dem Abgleich von Positionen und vermittelten die hohe Kunst des Kompromisses, so der Journalist weiter. Solche Foren seien rar geworden.
Als ein Beispiel für öffentliche Vereinzelung nennt Minkmar den Publizisten Ken Jebsen, der einst Journalist beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) war, dort nach Antisemitismusvorwürfen gehen musste und sich mit fortschreitender Radikalisierung sozial weiter isolierte – was eine weitere Radikalisierung nach sich zog.
Es fielen einem noch andere Beispiele ein, wenn auch weit weniger radikal: die einstige Linksfraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht etwa, von der es in der Linken seit Längerem heißt, dass sie eher ungern an Gremiensitzungen teilnehme und für Small Talk nicht zu haben sei. So driftet die 52-Jährige, die sich zuletzt in die Reihen der Impfskeptiker begeben hat, mehr und mehr ab. Die Folge: Beim letzten nordrhein-westfälischen Landesparteitag wollte die Mehrheit der Delegierten sie nicht hören.
Freundschaften zerbrechen über Streitfrage
Ex-Verfassungsschützer Freier sagt mit Blick auf die „Querdenker“-Szene: „Wir erleben, dass Freundschaften zerbrechen über diese Streitfragen. Menschen verheddern sich in Verschwörungsmythen. Sie brechen ihre bisherigen Kontakte ab – zu ihrer Familie, teils sogar zu ihrer Arbeitsstätte. Das befeuert eine regelrechte Abwärtsspirale, die dazu führt, dass diese Menschen sich immer stärker radikalisieren.“
Das Paradox besteht darin, dass Menschen, die insgeheim unter einem Mangel an Zusammenhalt leiden, ausgerechnet solidarischen Lösungen, die Zusammenhalt stärken würden, eine Absage erteilen – ob in der Flüchtlings- oder der Corona-Krise. Als positives Gegenbeispiel gilt, jedenfalls aktuell, Spanien. Dort ist die Impfquote hoch und die Zahl der „Querdenker“ überschaubar. Und die Spanier sind Menschen, die gern Zeit miteinander verbringen.
In den „Querdenker“-Kontext passt, wie die österreichische Psychiaterin Heidi Kastner „Dummheit“ definiert: nicht als Mangel an Intelligenz, sondern als Mangel an Rücksichtnahme im Denken. „Dumme Menschen verstehen sich nicht als Teil eines Gefüges, für sie kommen immer nur die eigenen Belange an erster Stelle“, sagt die Linzer Fachärztin, die ein Buch zum Thema geschrieben hat. „Das zentrale Merkmal von dummen Leuten ist, dass sie ausschließlich die eigene Position priorisieren und alles andere ignorieren. Das sieht man auch in dieser Corona-Pandemie, wo die Leute sagen: ‚Ich bleibe ganz bei mir.‘“
Es droht eine Spirale nach unten
Schließlich droht individuell wie gesellschaftlich eine Spirale nach unten. So warnte der Konfliktforscher Andreas Zick unlängst, dass der Verlauf des Corona-Konflikts negative Konsequenzen für die Lösung anderer politischer Probleme haben könnte. „Eine starke kohärente Gesellschaft erzeugt Herdenimmunität“, sagte er – durch Impfungen. Diese Herdenimmunität trete jedoch nicht ein. „Jetzt kann es sein, dass wir am Ende der Pandemie weniger gesellschaftlichen Zusammenhalt haben als vorher“, meinte Zick. Das werde sich auf den Umgang mit künftigen Herausforderungen auswirken.
Ex-Verfassungsschützer Freier denkt in eine ähnliche Richtung. Die Frage laute, „wie man präventiv auf Menschen zugeht und auch ihre Lebensbedingungen in den Blick nimmt“, sagte er – hin zu mehr Gemeinschaft. Das sei „eine wirklich komplexe Aufgabe“ und habe „jetzt hohe Priorität“.
Der Artikel "„Querdenker“-Szene: Radikal und einsam" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.