Alt wird jeder – und viele sind dann auf Pflege angewiesen. Doch wie ist die Qualität der Pflege? Die Pflege-Noten geben keine Orientierung. So laufen die Kontrollen unserer Pflegeheime.

von Benjamin Legrand

Dortmund

, 29.07.2018, 05:20 Uhr / Lesedauer: 5 min

Wie freundlich ist die Pflegerin? Ist der Boden sauber? Welchen Eindruck machen die anderen Bewohner? Wer einen Platz in einem Pflegeheim sucht, achtet auf so etwas. Aber was sagt das aus? Orientierung und Sicherheit über Qualitätsmängel sollen offizielle Prüfberichte und Pflege-Noten geben. Doch die stehen seit Jahren massiv in der Kritik.

„Das war für mich unmenschlich“, erinnert sich eine ehemalige Mitarbeiterin eines Dortmunder Pflegeheims. Vor der Mittagszeit hatte sich eine ältere Dame in die Windel gemacht – oder in die Vorlage, wie Pflegekräfte sagen. Es stank. Aber die Kollegin winkte ab. Kein Zeit. „Die Frau sollte mit vollgeschissener Windel zum Essen“, empört sich die junge Frau noch heute. Nach Protest wurde die Dame doch noch gereinigt, konnte sauber essen. Für die Expertin dennoch ein einschneidendes Erlebnis, eines von vielen. Viele Nächte mit nur einer Fachkraft für das ganze Pflegeheim, wo eigentlich eine Fachkraft für jede Abteilung sein sollte. Mittlerweile hat sie den Job aufgegeben.

Pflegequalität ist ein sensibles Thema

Das Thema Pflegequalität ist ein heikles: Skandalisiert man Einzelfälle? Verharmlost man einen strukturellen Skandal? Bringt man eine ganze Branche in Verruf? Oder überlässt man Pflegebedürftige und Pflegekräfte ihrem Schicksal? Es ist kompliziert. Und egal, mit wem man spricht, es gibt zwei gemeinsame Nenner unter Pflegekräften, Heimbetreibern, Politikern, Gewerkschaftern: Die Pflegenoten taugen nichts. Und es gibt gute und schlechte Heime, unabhängig davon, wer damit Geld verdient. „Man kann nicht alle über einen Kamm scheren“, sagt Bianca Werner, bei der Gewerkschaft Verdi zuständig für Pflegeberufe in Dortmund.

Wer kontrolliert die Heime eigentlich?

Die Kontrolle der Pflegeheime in NRW ist komplex. Die Pflegedokumentation, die fast überall handschriftlich gemacht wird, ist dabei zentral. Es gibt eine Kontrolle durch die staatliche Heimaufsicht, der sogenannten WTG-Behörde der Stadt. WTG steht für Wohn-und-Teilhabe-Gesetz. Und auch der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) prüft die Heime einmal im Jahr.

Die Kontrollen in Pflegeheimen fokussieren sich auf die schriftliche Dokumentation.

Die Kontrollen in Pflegeheimen fokussieren sich auf die schriftliche Dokumentation. © dpa

Die Heimaufsicht der Stadt wird bei Beschwerden aktiv und macht „anlassbezogene Prüfungen“, aber vor allem eine jährliche Regelüberprüfung – „grundsätzlich aus dem Blickwinkel der Gefahrenabwehr“, wie die Stadt auf Anfrage mitteilt. Die Ergebnisberichte sind online bei der Dortmunder Heimaufsicht einzusehen, enthalten aber nur grobe Informationen über Mangelfreiheit, geringfügige Mängel oder wesentliche Mängel.

„Ein Instrument der Volksverdummung“

Für mehr Transparenz sollte der bundesweite Pflege-TÜV sorgen, für den der MDK 84 Kriterien überprüft. Während der vollständige Prüfbericht mit allen Ergebnissen dem Betreiber und den Pflegekassen vorbehalten bleibt, bekommt die Öffentlichkeit nur einen Transparenzbericht – der sogenannte Pflege-TÜV mit Pflegenoten (unter www.pflege-navigator.de). Das Problem: Wenn alle Einzelnoten verrechnet sind, bekommen viele Heime eine Gesamtnote 1. Die Aussagekraft tendiert gegen 0. „Die Pflegenoten des MDK sind daher schon lange ein Instrument der Volksverdummung“, sagt Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz.

Dortmunder Heime mit guten Pflege-Noten

In Dortmund bekommt mehr als die Hälfte der Pflegeheime ein „sehr gut“. 13 der 33 Einser-Heime sogar die Bestnote 1,0. Der Notendurchschnitt der 59 gelisteten Heime beträgt 1,48 – ein sehr gutes „gut“ hätte man in der Schule gesagt. Nur drei Dortmunder Heime kassieren ein „befriedigend“, gar nur einmal gibt es „ausreichend“.

„Die jetzige Bewertung der Pflegeheime können wir auch sein lassen. Dieses Notensystem führt die Bürger regelrecht in die Irre“, sagt der nordrhein-westfälische Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) im Gespräch mit dieser Zeitung: „Wenn Sie jetzt bei der Verteilung der Medikamente einen Fehler machen, ist das zwar ein schlimmer Pflegefehler. Den können Sie in der Bewertung aber mit einer guten Speisekarte wegkriegen.“

Kritik an Qualitätskriterien

Das sehen selbst Heimbetreiber nicht anders. „Die Qualitätskriterien sind indifferent und geben keinen Einblick in die Versorgungsqualität“, sagt Elke Herm-Riedel, Abteilungsleiterin Qualitätsmanagement beim Bezirk Westliches Westfalen der AWO, die sechs Seniorenzentren in Dortmund betreibt. Der private Betreiber Alloheim mit sechs Heimen in der Stadt betont die Bedeutung des nicht veröffentlichten Prüfberichtes: „Wichtiger als die Noten selbst sind für uns jedoch die Hinweise und Ratschläge, die uns der MDK im Rahmen der Prüfungen gibt. Sie sind für uns wichtige Anhaltspunkte, um die Qualität der Pflege immer weiter zu verbessern.“

Die Heimaufsicht der Kommune und der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) kontrollieren die Qualität der Pflege. Dabei schauen sie vor allem in die schriftliche Dokumentation.

Die Heimaufsicht der Kommune und der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) kontrollieren die Qualität der Pflege. Dabei schauen sie vor allem in die schriftliche Dokumentation. © dpa

Die Kontrollen ergeben nur Sinn, wenn die Pflegeheime vorab davon nichts wissen. Heimaufsicht und MDK seien unangekündigt, das betonen Betreiber, MDK und auch die Stadt. Mehrere Stimmen aus der Branche behaupten das Gegenteil. Die Heime wüssten sehr wohl, dass eine Prüfung anstehe. Es gebe Anrufe. Man wisse anhand der letzten Prüfungen, dass man als Nächstes an der Reihe sei. Einer, der in ganz Westfalen mit Prüfungen befasst ist, bestätigt diese Aussagen indirekt. Man habe bei der Überprüfung der Dokumentation am Schriftbild gemerkt, dass sie nachträglich und eilig bearbeitet worden sei: „Je später die Nacht, desto kleiner die Schrift“, sagt er. Aber auch: „Die Zeiten haben wir gehabt, sind aber weitestgehend vorüber.“

So kontrolliert die Heimaufsicht

Eine nachträgliche Schönung werde verhindert, teilt die Stadt mit: „Durch den Abgleich der Pflegedokumentation mit dem Pflegezustand der Bewohnerinnen und Bewohner, den Gesprächen mit den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen bzw. Betreuern und aufgrund der vorliegenden ärztlichen Verordnungen kann festgestellt werden, ob die Pflegedokumentation die tatsächliche Pflegesituation widerspiegelt und alle erforderlichen Maßnahmen umgesetzt wurden“, sagt die Stadt.

Mit bis zu vier Prüfern besucht die städtische Heimaufsicht die Heime. Zwischen acht und zehn Stunden bleiben sie vor Ort, überprüfen die Einrichtungen in fest definierten Kategorien. Vor allem beschäftigen sie sich stichprobenartig mit bis zu 15 Bewohnern. Was steht zur ihrer Pflege in der Dokumentation? Wie sieht der reale Pflegezustand aus?

Rund 90 Beschwerden gingen in den vergangenen Jahren jährlich bei der Dortmunder Heimaufsicht ein. Die meisten bezogen sich laut Stadt auf die „Pflege- und Betreuungsqualität“, gefolgt von einer „ausreichenden Personalausstattung“ und dem „Umgang mit den Medikamenten“.

Krankenkassen sehen Pflege-Mängel

Alarmierendere Zahlen kommen von den Krankenkassen, die ihre Abrechnungen überregional ausgewertet haben. Statt wie beim Pflege-TÜV einen Mix aus verschiedenen Kriterien zu addieren und zu nivellieren, konzentrieren sich diese auf Krankheitsbilder. Der BKK Landesverband Nordwest sieht bei zwei Dritteln aller Krankenhausaufnahmen von Pflegebedürftigen klare Hinweise auf Pflegedefizite in Heimen. Demnach wäre der Großteil der Aufnahmen durch Flüssigkeitsmangel oder Wunden aufgrund zu langen Liegens oder sturzbedingte Verletzungen nötig geworden.

Medikamentenabgabe in einem Pflegeheim zum Mittagessen.

Medikamentenabgabe in einem Pflegeheim zum Mittagessen. © dpa

Wie groß das Problem ist? Laut BKK musste 2017 die Hälfte der Pflegebedürftigen in Nordrhein-Westfalen mindestens einmal ins Krankenhaus. Jeder vierte Pflegebedürftige sogar mehrmals. Auffällig sei, schreibt die BKK, dass bei 40 Prozent der stationär gepflegten Patienten Neuroleptika verordnet würden und damit häufiger als bei Pflegebedürftigen, die zu Hause betreut werden. Neuroleptika werden als Beruhigungsmittel eingesetzt.

AOK-Studie zeigt Qualitätsunterschiede

Auch eine aktuelle Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK zeigt große Qualitätsunterschiede.

Beispiel Dekubitus: Je 100 Heimbewohner treten jährlich im Durchschnitt 8,5 neue Fälle der Wundliegegeschwüre auf. Beim auffälligsten Viertel der Heime mit zwölf oder mehr Fällen gleich dreimal so viele wie beim Viertel der Heime mit der niedrigsten Rate.

Beispiel Antipsychotika bei Demenzkranken: 41 Prozent der Demenzkranken in Pflegeheimen erhalten demnach mindestens einmal pro Quartal ein Medikament gegen psychische Symptome. Das untere Viertel der Heime gibt aber anderthalbmal so viele Verordnungen wie das obere Viertel.

Und auch bei Krankenhauseinweisungen gibt es große Unterschiede: Während durchschnittlich 32 von 100 Bewohnern einmal pro Jahr ins Krankenhaus eingewiesen werden, sind es bei manchen Heimen mit 63 Fällen pro 100 Bewohnern gleich doppelt so viele.

Pflegemängel schwer zu definieren

Für Dortmund speziell gibt es keine dieser Fallzahlen. Weder MDK noch Heimaufsicht führen eine Statistik über Dekubitus, Antipsychotika oder Krankenhauseinweisungen. Rein statistische Zahlen würden keine Rückschlüsse auf die Versorgungsqualität von Einrichtungen zulassen, schreibt die Stadt auf Anfrage. Aber: „In Dortmund werden Bewohner mit Dekubitalgeschwüren, verordneten Antipsychotika und anderen Risiken schwerpunktmäßig in die Prüfungen einbezogen“, sagt die Stadt: „Festgestellte Defizite werden detailliert im Prüfbericht an den Betreiber beschrieben. Erste Maßnahmen werden gegebenenfalls bereits zum Zeitpunkt der Prüfung eingeleitet.“

Die Studien der Versicherungen klingen dramatisch. Was macht gute Pflege aus? „Als Pflegefachkraft muss man immer eine Risikoabwägung vornehmen zwischen dem, was pflegefachlich erforderlich und notwendig ist, und den Selbstbestimmungsrechten, den Wünschen, Bedürfnissen und Gewohnheiten des Bewohners“, sagt Elke Herm-Riedel, oberste Qualitätsmanagerin der AWO: „Lasse ich einen alten Menschen in seiner letzten Lebensphase in seinem Bett und ihn den ganzen Tag an die Decke starren, um das Dekubitusrisiko auszuschalten? Dann hat er aber auch keine Lebensqualität und keine Möglichkeit der sozialen Teilhabe. Oder setze ich ihn für einzelne Stunden in den Rollstuhl, damit er am Gemeinschaftleben teilhaben kann? Damit gehe ich natürlich ein gewisses Risiko ein. Es ist immer ein Abwägungsprozess.“