Ukraine-Krieg: Selenskyj appelliert an Russlands Minderheiten
Teilmobilmachung
Mit Teilmobilmachung und Scheinreferenden will Putin die Ukraine einnehmen. Nach den heftigen Protesten richtet Selenskyj einen Appel an russische Minderheiten.
Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ethnische Minderheiten besonders hart. „Wir sehen, dass Menschen, besonders in Dagestan, angefangen haben, um ihr Leben zu kämpfen“, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht zum Montag. Er bezog sich dabei auf heftige Proteste, die Stunden zuvor in der muslimisch geprägten russischen Teilrepublik Dagestan im Kaukasus ausgebrochen waren.
Der Umgang mit russischen Kriegsdienstverweigern soll am Montag (26.9) auf EU-Ebene koordiniert werden. 27 EU-Botschafter sollen unter dem sogenannten Krisenreaktionsmechanismus zu einer Sitzung zusammenkommen.
In den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine gehen außerdem die Scheinreferenden über einen Beitritt zu Russland weiter. Die Ukraine und der Westen sehen in den noch bis Dienstag angesetzten Zwangsabstimmungen einen Völkerrechtsbruch. Es wird erwartet, dass die Gebiete annektiert und womöglich schon am Freitag von Putin zu russischem Staatsgebiet erklärt werden.
Selenskyj: Annexion macht Verhandlungen mit Russland unmöglich
Eine Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland macht Verhandlungen mit dem Kreml aus Sicht des ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj unmöglich. Die Regierung in Moskau könne den Abschluss der Abstimmungen und die Ergebnisse offiziell verkünden. „Dies würde eine Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen mit dem Präsidenten der Russischen Föderation auf jeden Fall unmöglich machen“, sagte Selenskyj dem US-Sender CBS News in einem am Sonntag veröffentlichten Interview laut Übersetzung. Kremlchef Wladimir Putin wisse das sehr gut.
Seit Freitag wird in den vier russisch besetzten Gebieten Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja in Scheinreferenden über einen Beitritt zu Russland abgestimmt. Die international als Bruch des Völkerrechts kritisierten Abstimmungen sind noch bis Dienstag angesetzt.
Selenskyj hatte bereits in der Vergangenheit gewarnt, dass die Scheinreferenden alle Chancen auf Friedensverhandlungen zunichte machen würden.
Mehr als 700 Menschen bei neuen Protesten festgenommen
Bei neuen Protesten in Russland gegen die von Kremlchef Wladimir Putin angeordnete Teilmobilmachung für seinen Krieg gegen die Ukraine sind mehr als 700 Menschen festgenommen worden. Das Menschenrechtsportal ovd.info berichtete am Abend in Moskau von landesweit 747 Festnahmen in insgesamt 32 Städten.
Es handele sich nur um die namentlich bekannten Männer und Frauen, in Gewahrsam könnten noch deutlich mehr Menschen sein, hieß es. Allein für die russische Hauptstadt Moskau wurden mindestens 380 Festnahmen angegeben - und für St. Petersburg 125.
Die russische Polizei ging teils brutal gegen Teilnehmer der von den Behörden verbotenen Anti-Kriegs-Proteste vor. Aus St. Petersburg wurden in sozialen Netzwerken Videos veröffentlicht, die zeigten, wie Männer in Kampfuniform und mit Helm auf Demonstranten einknüppelten. Das Portal ovd.info berichtete unter Berufung auf Augenzeugen, dass die Sicherheitskräfte Elektroschocker einsetzten.
Erneute Anti-Mobilisierungs-Proteste in Moskau. Erste Festnahmen schon wenige Minuten nach Beginn. #dpareporter pic.twitter.com/L7kjRaHxZB
— Hannah Wagner (@wagner_han) September 24, 2022
UN-Sicherheitsrat beschäftigt sich mit Scheinreferenden am Dienstag
Erneute Anti-Mobilisierungs-Proteste in Moskau. Erste Festnahmen schon wenige Minuten nach Beginn. #dpareporter pic.twitter.com/L7kjRaHxZB
— Hannah Wagner (@wagner_han) September 24, 2022
Derweil laufen die Scheinreferenden in den vier besetzten ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson weiter. Dort sollen die Menschen über den Beitritt zur Russischen Föderation abstimmen. Der UN-Sicherheitsrat wird sich mit ihnen am Dienstag beschäftigen. Das Treffen des mächtigsten Gremiums der Vereinten Nationen wurde Diplomatenangaben zufolge von den USA und Albanien beantragt und soll am Dienstagnachmittag Ortszeit (21 Uhr deutscher Zeit) in New York stattfinden. UN-Generalsekretär António Guterres hatte eine mögliche Annexion der Gebiete zuletzt als Verletzung des Völkerrechts bezeichnet.
Nach Angaben der Organisatoren des Scheinreferendums sollen in allen vier von Russland besetzten Gebieten im Osten der Ukraine inzwischen jeweils mehr als die Hälfte der Berechtigten ihre Stimme abgegeben haben. Im südukrainischen Gebiet Cherson soll die Mindestbeteiligung von 50 Prozent erreicht worden sein, wie die Vorsitzende der Wahlkommission, Marina Sacharowa, nach einer Meldung der russischen Staatsagentur Tass mitteilte.
Russland erwartet eine Zustimmung von 80 bis 90 Prozent der Menschen für einen Beitritt zu seinem Staatsgebiet. Die Abstimmungen werden international als Völkerrechtsbruch kritisiert.
Vize-Verteidigungsminister Bulgakow entlassen
Genau sieben Monate nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine ist in Russland Vize-Verteidigungsminister Dmitri Bulgakow seines Amtes enthoben worden. Offiziell begründete das Verteidigungsministerium den Schritt in einer Mitteilung vom Samstag mit der Versetzung Bulgakows „auf einen anderen Posten“. Sein Nachfolger soll Generaloberst Michail Misinzew werden, der bislang das nationale Zentrum für Verteidigungsmanagement leitete. Er soll künftig insbesondere für die Logistik der Armee zuständig sein.
Russland versucht offenbar mit Angriffen auf Staudämme die Offensive aufzuhalten
Derweil versucht Russland nach Einschätzung Großbritanniens, mit Angriffen auf Staudämme die ukrainische Offensive im Osten des Landes aufzuhalten. Am 21. und 22. September hätten russische Truppen den Petschenihy-Staudamm am Fluss Siwerskyj Donez östlich der Großstadt Charkiw mit Kurzstreckenraketen oder ähnlichen Waffen beschossen, teilte das Verteidigungsministerium in London am Samstag unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit. Bereits am 15. September habe es eine ähnliche Attacke auf den Karatschuniwka-Damm gegeben, der den Fluss Inhulez nahe der zentralukrainischen Stadt Krywyj Rih staut.
Am Freitag hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Bürger in den besetzten Gebieten vor der Mobilmachung durch das russische Militär gewarnt. „Verstecken Sie sich auf jeden Fall vor der russischen Mobilisierung. Vermeiden Sie Einberufungen“, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache.
In den vier von Russland besetzten Gebieten Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja waren am Freitag die noch bis Dienstag laufenden Scheinreferenden über einen Beitritt zu Russland gestartet. Russische Staatsmedien zeigten am Samstag erneut Bilder von Bürgern an Wahlurnen.
Video: Anwohner zum Urnengang gezwungen?
In sozialen Netzwerken kursierte unter anderem ein Video, das bewaffnete Männer in einem Hausflur zeigt und dokumentieren soll, wie die russischen Besatzer Anwohner zum Urnengang zwingen. Der ukrainische Generalstab berichtete, in Cherson und Saporischschja erhielten die ersten Männer Mobilisierungsbescheide für die russische Armee.
I really want as many people as possible to watch these video. Try to imagine yourself in the place of these people. Their cities were occupied by a foreign army and now people with guns come to their apartments and demand to vote for joining Russia. Fake “referendums”. pic.twitter.com/UpqXgP4yT3
— Oleksandra Matviichuk (@avalaina) September 23, 2022
Die moskautreuen Separatisten und die russischen Militärverwaltungen in den Regionen sprechen von einem vollen Erfolg der Abstimmungen und einer hohen Wahlbeteiligung. Angeblich liegt diese bereits nach dem ersten Tag in drei der vier Regionen bei über 20 Prozent. Unabhängig sind diese Angaben nicht zu überprüfen.
G7-Regierungschefs haben Scheinreferenden verurteilt
Die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden demokratischen Wirtschaftsmächte (G7) haben die Scheinreferenden in den russisch besetzten Gebieten in der Ukraine aufs Schärfste verurteilt. Zudem drückten sie ihr Bedauern über die Teilmobilisierung der Streitkräfte in Russland aus. Die Scheinreferenden dienten als „falscher Vorwand“, um den Status von souveränem ukrainischem Territorium zu verändern, das russischer Aggression zum Opfer gefallen sei. „Diese Aktionen sind ein klarer Bruch der Charta der Vereinten Nationen und des internationalen Rechts“, hieß es weiter.
Die G7-Staaten bedauerten zudem die „unverantwortliche Atomrhetorik“ Russlands. Die G7 rufe alle Länder dazu auf, die Scheinreferenden abzulehnen. Man sei bereit, weitere wirtschaftliche Sanktionen gegen Einzelne und Gruppen zu verhängen, die Russlands illegale Aktivitäten unterstützten. Zudem stünden sie zu ihrem Versprechen, der Ukraine jegliche militärische, finanzielle und humanitäre Unterstützung zu geben, die sie zur Verteidigung ihrer Souveränität und territorialen Einheit brauche.
Russische Männer fliehen in Scharen ins Ausland
Nach Beginn der Teilmobilmachung in Russland fliehen Männer im wehrfähigen Alter in Scharen ins Ausland, um sich vor einem drohenden Einsatz im Ukraine-Krieg in Sicherheit zu bringen. Es gab in Russland Proteste gegen die Maßnahme mit Hunderten Festnahmen.

Knapp 6000 Russen kamen am Donnerstag an Grenzübergängen im Südosten Finnlands an. © picture alliance/dpa/Lehtikuva/AP
Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit seiner Anordnung am Mittwoch, nach militärischen Rückschlägen 300.000 Reservisten zu mobilisieren, in vielen Familien Panik ausgelöst. Die an Russland grenzende zentralasiatische Ex-Sowjetrepublik Kasachstan, Armenien und Georgien berichteten über vermehrte Einreisen aus Russland. Dort benötigen Russen kein Visum. Auch vor den Grenzen Finnlands stauen sich Autos und Busse.
EU steht vor neuer Herausforderung
Dass viele Männer Verkündung das Weite suchen, ist aus Sicht der Bundesregierung erst einmal eine positive Nachricht. Inwiefern EU-Staaten den Kriegsverweigern Hilfe anbieten soll, ist aber umstritten. Im Kern geht es darum, ob ihnen lediglich der Weg über das Asylverfahren offenstehen soll oder ob es eine spezielle Regelung geben sollte, die ihre Einreise in die Europäische Union erleichtert.
Dazu soll in der nächsten Woche auf europäischer Ebene beraten werden. Ein erstes Krisentreffen der 27 EU-Botschafter brachte am Montag keine Lösung. Man habe die EU-Kommission dazu aufgefordert, die jüngsten Leitlinien zur Visavergabe „unter Berücksichtigung der Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten zu überprüfen, zu bewerten und gegebenenfalls zu aktualisieren“, teilte die derzeitige tschechische EU-Ratspräsidentschaft anschließend lediglich mit.
Deutsches Asyl für Kriegsdienstverweigerer aus Russland?
Politiker aus Koalition und Opposition in Deutschland machen sich derweil für die erleichterte Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer und Deserteure in Deutschland stark. Dagegen sprach sich der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk aus: „Falscher Ansatz! Sorry. Junge Russen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, müssen Putin und sein rassistisches Regime endlich stürzen, anstatt abzuhauen und im Westen Dolce Vita zu genießen.“
Vor der Gefahr einer weiteren Eskalation durch Kreml-Chef Wladimir Putin warnte der Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil. Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) machte er aber deutlich, dass man die Ukraine weiter konsequent unterstützen werde. Es gelte, einen „Dritten Weltkrieg“ zu verhindern, so Klingbeil. Auch Waffenlieferungen gehörten dazu.
Annexion der besetzten Gebiete, Teilmobilmachung, Referenden: Die Pläne von Wladimir Putin sind umfangreich. Was bezweckt er damit? Wie geht es weiter? Und wie kann der Westen darauf reagieren? Die Antworten sind komplex. Hier finden Sie detaillierte Erklärungen.
mit dpa