Putin attackiert die Psyche des Westens

Eine neue Kriegserklärung

Was genau hat Wladimir Putin in der Ukraine vor? Geheimdienstler hantieren jetzt mit einer neuen Deutung: Putin plane einen möglichst langen Nervenkrieg – der am Ende den Westen zersetzen soll.

von Matthias Koch

, 22.05.2022, 04:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Dachte Wladimir Putin tatsächlich, seine Truppen könnten binnen weniger Tage Kiew einnehmen?

„Die Aufgabe war wie folgt gestellt: Mariupol in drei Tagen einnehmen, Kiew in fünf“: Mit diesen Worten zitierte das ins Ausland abgewanderte russische Investigativ­portal „Waschnyje Istorii“ (Wichtige Geschichten) dieser Tage mehrere Quellen aus dem russischen Geheimdienst.

Aber stimmt das wirklich? Putin, der Ahnungslose? Putin, der Ratlose?

Es gibt Zweifel. Viele Aktivitäten der russischen Armee in der Ukraine wirkten verblüffend planlos. Mal ging es um Kiew, dann wieder nicht, mal wurde Charkiw zerschossen und erobert, dann schnell verlassen. Generäle in den Lagezentren der Nato kratzten sich am Kopf: Militärisch ergab dies alles wenig Sinn. Es fehlte der rote Faden, die übergreifende Idee.

Genau deshalb aber wächst mittlerweile in westlichen Geheimdiensten ein beunruhigender Verdacht. Was, wenn es Putin gar nicht so sehr ums Tempo geht oder um einzelne Geländegewinne hier oder da, sondern vor allem um eine – wie auch immer geartete – fortdauernde brutale Dauerattacke auf die Psyche der westlichen Gesellschaften?

Ein Krieg um des Krieges willen

Dies würde manches erklären: den Gleichmut, mit dem Putin eine Eroberung Kiews einfach mal versuchte auch auf die Gefahr hin, dass es nicht klappt; die Nutzung älterer Fahrzeuge und Panzer zu Beginn des Krieges; das Zusammen­trommeln unerfahrener russischer Soldaten.

Will Putin diesen Krieg vielleicht gar nicht schnell gewinnen, sondern ihn im Gegenteil möglichst lange führen – um eiskalt abzuwarten, was dann im Westen passiert? Die Chefin der US-Geheimdienste, Avril Haines, machte jüngst vor einem Senatsausschuss Bemerkungen, die exakt zu dieser neuen düsteren Erklärung des Kriegs passen.

Zwar wachse in letzter Zeit der Eindruck der totalen Unberechenbarkeit von Putins Strategie, sagte Haines, sie selbst aber glaube, Putin habe in Wahrheit seine Pläne nie geändert. Auch die derzeitige Beschränkung auf den Donbass müsse keineswegs von Dauer sein, jederzeit könne Putin eine Eskalation in Gang setzen, auch über die Ukraine hinaus.

Spiel auf Zeit: Einer wird gewinnen

Krieg um des Krieges willen: Das ist ein Gedanke, den niemand gern an sich heranlässt. Doch der Krieg nützt nun mal dem Kremlherrn, er festigt seine Macht. Gäbe es plötzlich eine Waffenruhe, Stillstand, ein neues Nachdenken gar, geriete Putin ins Wanken. Viel besser ist es für ihn, alles in Bewegung zu halten, die Militär- und die Progandaapparate. Er kann noch viele Register ziehen, das Kriegsrecht verhängen, eine Mobilmachung verkünden, die Donbass-Republiken annektieren.

Eines der Eskalations­szenarien geht so: Putin erklärt Donezk und Luhansk für russisch – und droht für den Fall von Attacken auf diese Gebiete mit nuklearer Gegenwehr. Für den Fall dieses Falles hat der Westen sich noch gar nicht politisch sortiert. Ein weiteres Szenario: Putin zieht seine Truppen zurück hinter die Linien vor dem 24. Februar, erhält aber den Druck auf Kiew aufrecht. Was dann? Wird die Nato die Ukrainer auch dann unterstützen, wenn sie die Russen von der Halbinsel Krim vertreiben wollen? Oder beginnt dann die Spaltung des westlichen Bündnisses?

Putin spielt auf Zeit. Er weiß, dass die westlichen Gesellschaften ungeduldig sind, dass sie schnelle Lösungen wollen. Den Gefallen tut er ihnen nicht. Hirntumor, Putsch, schneller Kollaps der russischen Wirtschaft? Alles Fehlanzeige. In den USA macht schon das Stichwort „Ukraine fatigue“ die Runde, Ukraine-Müdigkeit. Auch in Deutschland wünschen sich viele Menschen längst einen Themenwechsel.

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Putin setzt auf Inflation, Streit, Unruhen

Als früherer KGB-Mann kennt Putin sich aus mit Psychoattacken, mit Methoden allmählicher Zermürbung und Zersetzung. Putin hofft, so teuflisch es klingt, auf maximales Leid im Westen: durch Inflation, hohe Energiepreise und die wachsende Nahrungsmittel­knappheit, die in Teilen der Erde zu Unruhen und damit auch zu neuen Flüchtlings­strömen führen kann, die sogar noch größer werden könnten als jene, die er 2015 in Syrien durch ein barbarisches Bombardement erzeugte. Die damalige Flüchtlingswelle steigerte den Nationalismus quer durch Europa, half der deutschen AfD und beflügelte in Großbritannien die Brexit-Bewegung.

Streit, Destabilisierung, rechtspopulistische Aufwallungen: Politische Kriegsfolgen wie diese passen zu Putins Plan, die von ihm gehasste und verachtete EU politisch zu zerstören. Erst wenn die Gemeinschaft der 27 Staaten zerspringt und sich möglichst auch noch von den USA löst, ist sein Ziel erreicht: Moskau kann dann zum maßgeblichen Machtzentrum zwischen Atlantik und Wladiwostok werden.

Das kann noch einige Jahre dauern, ist aber nicht unmöglich. Schon 2024 könnte Donald Trump in den USA wiedergewählt werden und seinen alten Plan eines Rückzugs aus Europa umsetzen. Bereits 2023 besteht die Chance, dass das derzeit außergewöhnlich klug regierte Italien sich wieder dem Populismus zuwendet. In Frankreich könnte es 2027 endlich reichen für eine Machtübernahme von Marine Le Pen.

Die Russen sind an Krieg gewöhnt

Dies alles, ahnt Putin, könnte beflügelt werden durch den Wunsch der westlichen Gesellschaften nach Frieden – hinter dem am Ende nicht nur hehrer Pazifismus steht, sondern auch ein großes Quantum Egozentrik und Bequemlichkeit.

Sein eigenes Volk indessen hat der Kremlherr in den 22 Jahren seiner Machtausübung in Moskau systematisch an den Krieg gewöhnt. Immer wieder ließ er es krachen, in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien und – schon seit 2014 – in der Ukraine. Seine Russen sind inzwischen leidensfähig und sanktionserprobt.

„Putin glaubt, dass Russland eine größere Fähigkeit und Bereitschaft hat, Herausforderungen auszuhalten, als seine Gegner“, sagt Haines – und markiert damit einen in der Tat zentralen Punkt.

Putin will jetzt offenbar den ultimativen Test der Systeme, einen mehrdimensionalen Vergleich der Durchhalte­fähigkeit: militärisch, ökonomisch, psychologisch. Diesen Test bekommt man nicht hin in Friedenszeiten. Man braucht dazu einen Krieg – und zwar einen langen.

RND

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