Angstzustände wegen Corona: Schülerin (13) traut sich nicht mehr aus dem Haus

© picture alliance/dpa

Angstzustände wegen Corona: Schülerin (13) traut sich nicht mehr aus dem Haus

rnZwei Jahre mit Corona

Kurz vor der Pandemie zog die damals Zwölfjährige von Unna nach Kamen. Seit Ostern 2021 leidet sie unter Angst. Ohne Corona bräuchte ihr Kind heute keine psychiatrische Behandlung, ist ihre Mutter überzeugt.

Unna, Kamen

, 15.02.2022, 17:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Als sie im Juli 2019 in ihr Häuschen in Heeren-Werve einzog, ahnte Jennifer Gärtner* noch nicht, was auf sie und ihre kleine Familie zukommen würde. Mit Beginn der Pandemie entwickelte ihre damals zwölfjährige Tochter Ängste. Zeitweise wollte das Mädchen nicht mehr vor die Tür – suizidgefährdet wurde sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hamm untergebracht.

Jennifer Gärtner ist 34 Jahre alt, hat zuvor jahrelang in Unna gelebt und arbeitet als Fachkrankenschwester in Dortmund. Sie beschreibt im Gespräch mit unserer Redaktion viele Probleme, von denen in unserer großen Corona-Umfrage auch andere Eltern berichtet haben. Fehlende Kontakte, Unternehmungen und ein gestörter Schulunterricht sind die Faktoren, die Kinder in der Pandemie am meisten belasten. Stolze 55 Prozent der Befragten spüren deutliche bis sehr deutliche Corona-Auswirkungen auf ihr Privatleben.

Ausgeprägte Ängste, wie sie Jennifer Gärtners Tochter entwickelt hat, kommen seltener vor. Insgesamt rund 20 Prozent der Eltern gaben aber tatsächlich an, dass ihre Kinder sehr deutlich (8 Prozent) bis deutlich (zwölf Prozent) unter Ängsten leiden.

„Mama, mir geht es nicht gut“

„Mama, mir geht es nicht gut“, hat Tochter Sarah Gärtner* schon zu Beginn der Pandemie gesagt. Ihre Mutter erinnert sich noch an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen, weiß, dass Sarah dabei auf der Couch im Wohnzimmer saß.

Nach den Sommerferien im Jahr 2020 baute die Tochter dann zunehmend ab. „Ich hatte es anfangs auf die Hormone geschoben“, sagt die alleinerziehende Mutter. Sarah war zwölf Jahre alt, bekam zum ersten Mal ihre Tage, kam in die Pubertät.

Jetzt lesen

Doch wie sich in den darauf folgenden Wochen und Monaten herausstellte, waren es nicht nur die Hormone. Corona, die Einschränkungen und Neuerungen, die die Situation für das Leben der Zwölfjährigen mit sich brachte, überforderten das Mädchen.

„Sarah war immer sehr selbstständig, seit der Grundschule ein Schlüsselkind“, sagt Jennifer Gärtner. Doch sich die Zeit im Home-Schooling alleine einzuteilen, am Laptop in eine Kamera zu sprechen, das lag der Schülerin nicht. Ihre Mutter hat das Problem, wie sie selbst sagt, zu spät realisiert.

Erst schlechte Noten, dann Streit mit Freunden

Erst wurden die Noten schlechter. Dann kam ein alles verändernder Anruf der Tochter: Unter Tränen erklärte sie, dass sie nicht mehr zur Schule gehen werde. Jennifer Gärtner stand schon auf dem Parkplatz am Klinikum in Dortmund, meldete sich von der Arbeit ab und fuhr sofort zurück nach Hause.

Schule war nur ein Problem: „Die Kinder durften ja keine Freunde treffen.“ Sarah hatte nur noch drei Kinder, mit denen sie sich verabredete. Eine Freundin und zwei Nachbarskinder der Freundin. Wie es in dem Alter so ist, kam es zu kleinen Liebeleien und Konflikten, die dann nicht einfach am nächsten Tag in der Schule geklärt werden konnten.

Neben Freunden hatte Sarah zuvor auch viele Hobbys. Tanzen oder den Lauftreff mit Mama, um nur einige zu nennen. Coronabedingt blieben sie auf der Strecke. Sarah Gärtner war schon immer ein eher introvertierter Mensch. „Trotzdem war meine Tochter das blühende Leben“, sagt ihre Mutter. Ihre Hobbys im vertrauten Umfeld hielten sie im sozialen Gefüge.

Als im April 2021 der tränenreiche Anruf kam und Sarah fortan gar nicht mehr aus dem Haus wollte, sagte sie selbst: „Ich habe Angst vor Menschen, eine Sozialphobie.“ Ihrer Mutter war klar, dass ihr Kind ernstzunehmende Panikattacken hatte und sofort Hilfe brauchte.

Hilfe zu finden, wird zur großen Herausforderung

Doch diese Hilfe zu organisieren, entpuppte sich als große Herausforderung. Die 34-Jährige kontaktierte einen Kinderpsychotherapeuten in Unna. „Die waren rappelvoll in der Zeit.“

Um in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm aufgenommen zu werden, musste eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegen. Als ihre Tochter irgendwann die Treppe herunterkam und sagte, sie wolle nicht mehr leben, war dieser Punkt erreicht. „Jetzt fahren wir in die Klinik nach Hamm.“

Drei Nächte in der Psychiatrie

Dort war das Mädchen drei Nächte stationär untergebracht. Eine kurzzeitige Erleichterung für ihre Mutter. „Ich wusste, sie ist gut aufgehoben.“ Mit ihrer Tochter redete Jennifer Gärtner zu diesem Zeitpunkt ganz offen darüber, dass sie ihr nicht mehr helfen könne, weil ihre Probleme die Kompetenzen einer Mutter übersteigen.

Doch der Klinikaufenthalt war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Drei Tage Beobachtung reichten nicht, um die vielschichtigen Probleme anzugehen. Länger wollte das Kind nicht bleiben.

Die Familie war wieder auf sich gestellt. Damit Sarah morgens nicht mehr alleine ist, kommt nun seit fast einem Jahr jeden Tag ihr Vater nach Kamen. Er bringt sie zur Schule, macht den Alltag für sie erträglicher. Die Fortschritte sind klein, aber es gibt sie. „Wir mussten Sarah zwar wie eine Fünfjährige behandeln, haben sie nun aber ein Stück weit aufgepäppelt“, sagt ihre Mutter erleichtert. Geholfen hat dabei auch eine teure Therapeutin in Münster. Die bezahlte die Familie aus eigener Tasche. 100 Euro pro Sitzung, viermal im Monat.

Noch ist nicht alles überstanden

Trotzdem ist weder die Pandemie beendet, noch geht es Sarah inzwischen wieder richtig gut. Ihre Eltern und die inzwischen fast 14-Jährige hoffen auf einen Therapieplatz in einer Tagesklinik in Bergkamen. Eltern, die ähnliche Probleme haben, kann Jennifer Gärtner nur raten, die Kinder immer ernst zu nehmen, sie so zu akzeptieren wie sie sind – und aktiv nach Lösungen zu suchen.

Jetzt lesen

Um es der Tochter nicht noch schwerer zu machen, möchte die Familie anonym bleiben. Die Redaktion hat ihre Namen geändert.