Proteste gegen Fußball-Weltmeisterschaft in Katar Die große Heuchelei der WM-Boykotteure

Proteste gegen Fußball-WM in Katar: Die Heuchelei der WM-Boykotteure
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Ulrich Breulmann

Seit dem Sommermärchen 2006 schwappt regelmäßig ein paar Wochen vor Beginn einer Fußball-WM oder EM eine schwarz-rot-goldene Euphorie-Welle durchs Land. In diesem Jahr ist es vor der WM in Katar eine Boykottwelle: „Nö, guck ich nicht und das solltest du auch nicht tun.“

Mir war der Deutschland-Enthusiasmus ebenso suspekt wie es jetzt der kollektive Druck zum WM-Fasten ist. Ich werde das Gefühl nicht los, dass da bei vielen eine gehörige Portion Heuchelei und Scheinheiligkeit mit im Spiel ist.

Den letzten Funken Verstand gelöscht

Vorweg müssen wir eines festhalten: Selbstverständlich ist es absoluter Blödsinn, eine Fußball-Weltmeisterschaft mitten in die Wüste zu verlegen. Das ist so offensichtlich, dass man darüber nicht weiter zu reden braucht.

Wer auch nur einen winzigen Funken Verstand hat, käme ja auch nicht auf den irrwitzigen Gedanken, Olympische Sommerspiele in der Arktis zu veranstalten. Nur durch maximale Überzeugungsarbeit der Wüsten-Scheichs in Form von dicken Schecks konnte dieser letzte Funken Verstand gelöscht und die WM nach Katar vergeben werden.

Ganz abgesehen davon, ist es natürlich unerträglich, wenn für den Bau gigantischer Sportstätten, riesiger Straßen- und Bahn-Trassen tausende Arbeiter aus dem Ausland herangekarrt werden, dann unter miesesten Bedingungen wie Sklaven schuften müssen und viele dabei ihr Leben verlieren.

Und das in einem Land, in dem der Islam Staatsreligion ist und die Justiz sich an der Scharia ausrichtet, Homosexualität strafbar und die Gleichberechtigung von Frauen ebenso unvorstellbar ist wie bei uns ein Advent ohne Last Christmas. Aber: All das hat man lange vor der Entscheidung für Katar gewusst. Und verdrängt. Was zählt, sind nur drei Dinge: Geld. Geld und nochmals Geld.

Insofern gibt es jede Menge exzellenter Gründe, die WM in Katar zu schneiden. Ich kann jeden verstehen, der für sich persönlich sagt: Ich gehe lieber auf den Weihnachtsmarkt, in das Adventskonzert oder bastle zu Hause ein paar Strohsterne, als dass ich mir das Gekicke im Wüstensand anschaue, das natürlich auch unter Umweltgesichtspunkten ein einziges Desaster ist.

Andererseits ist es trotz allem auch völlig absurd, jetzt Katar zum allerersten großen Sündenfall der Sportgeschichte hochzustilisieren. Auch Deutschland selbst hat den Zuschlag für die WM 2006 wohl nur erhalten, weil Millionenbeträge auf dubiosen Wegen ihren Besitzer gewechselt haben. Mittendrin im Sumpf: Deutschlands Fußball-Lichtgestalt Franz Beckenbauer. Die deutsche Empörung über „gekaufte“ Spiele in Katar ist in meinen Augen durchaus scheinheilig.

Mit Sport hat die WM nur am Rande zu tun

Im Übrigen wurden auch vor der Vergabe der Fußball-WM nach Südafrika (2010) und Russland (2018) mit Millionensummen Stimmen gekauft, das ist bekannt. Und ob alle anderen Weltmeisterschaften wirklich „sauber“ waren, da kann man getrost seine Zweifel haben.

Selbstverständlich macht es die Sache nicht besser, wenn auch andere sich eine WM kaufen. Aber vielleicht sollte man einfach mal so ehrlich sein und sagen: Fußball ist in allererster Linie ein gigantisches Geschäft. Mit Sport und Sportsgeist, mit Anstand und Ehre hat das nur noch am Rande zu tun.

Und das definitiv nicht erst seit Katar. Wer das nicht akzeptieren will, der müsste nicht nur Abstinenz in Sachen Fußball-WM üben, sondern auch einen großen Bogen um alle größeren Sportereignisse machen. Den echten, puren Sport gibt es noch bei den Minikickern, maximal noch in der Kreisklasse – wenn auch zuweilen inklusive Schlägerei mit dem gegnerischen Team.

Und was ist mit den Menschenrechten?

Im Übrigen spielte die Situation der Menschenrechte auch keine Rolle, als die Fußball-WM 2018 an Russland und die Olympischen Winterspiele 2022 an Peking vergeben wurden. Die Frage, die die Internationalen Sportverbände irgendwann beantworten müssen, lautet: Wollen wir künftig nur noch Großveranstaltungen in Länder vergeben, die die fundamentalen Menschenrechte und den Wertekanon der westlichen Welt achten?

Wenn man politisches Wohlverhalten im westlichen Sinne zur Bedingung für die Vergabe eines Großevents machen will, kann man das tun. Allerdings – und das ist die Kehrseite – verliert man dann auch die Chance, über sportliche Großveranstaltungen Veränderungen in solchen Ländern zum Guten hin anzustoßen. Es ist eine heikle Frage und ganz sicher ein Balanceakt, bei dem man auch abstürzen kann.

Ein letzter Punkt, die Frage der Homosexualität. Die Einstellung des Islams zur Homosexualität ist absolut nicht neu und seit langem bekannt. Das macht die intolerante Ächtung gleichgeschlechtlicher Beziehungen natürlich um keinen Deut besser. Sie bleibt definitiv inakzeptabel, aber: Die jetzt aufflammende Empörung, als sei eine solche Diskriminierung und das Unter-Strafe-Stellen von Homosexualität etwas gänzlich Unvorstellbares, ist zutiefst scheinheilig.

Erst am 11. Juni 1994 wurde der Paragraph aus dem Deutschen Strafgesetzbuch gestrichen, der homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Zwar wurde der Paragraph schon Jahre vorher nicht mehr angewendet, trotzdem: Bis 1994 war das Homosexualitäts-Verbot auch in Deutschland Gesetz. Da war Deutschland schon fünf Jahre wiedervereint! So lange sind die Strafgesetze von uns deutschen Saubermännern und -frauen auch noch nicht wirklich sauber.

Und: Werde ich die WM schauen?

Und – auch das muss gesagt sein – Homosexualität ist auch bei uns im Jahr 2022 noch lange nicht von allen akzeptiert. Wer das behauptet oder unterstellt, dürfte sich gewaltig irren. Als Beispiel sei nur an den März 2021 erinnert, als der Vatikan Priestern die Segnung homosexueller Paare untersagte.

Bleibt die Frage: Werde ich die WM 2022 schauen? Ich ringe noch mit mir. Bis zum 23. November habe ich noch ein paar Tage Zeit, um darüber nachzugrübeln. Dann spielt Deutschland gegen Japan – wer es wissen möchte: 14 Uhr in der ARD.

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