Professor kritisiert Ärzte scharf: Viel zu viele Antidepressiva in der Corona-Krise

© Alexander Basta, Düsseldorf

Professor kritisiert Ärzte scharf: Viel zu viele Antidepressiva in der Corona-Krise

rnKritik an Antidepressiva

Die Corona-Pandemie hat nicht zu mehr psychischen Störungen geführt. Im Gegenteil. Dennoch verschreiben Ärzte massiv Antidepressiva – mit fatalen Folgen, sagt ein Experte.

Dortmund

, 02.12.2020, 11:04 Uhr / Lesedauer: 3 min

Prof. Dr. Jürgen Margraf (64) ist Inhaber einer Humboldt-Professur, nämlich des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. Außerdem ist er Mitglied der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften.

Er sagt: „Die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung sind ein ziemlicher Eingriff in das Leben der Menschen. Aber sie haben nicht dazu geführt, dass die Aufnahmeraten in psychotherapeutische Einrichtungen hochgegangen wären.“ Auch die diversen Hotline-Angebote, die zu Beginn des ersten Lockdowns aus dem Boden gestampft worden seien, seien „erstaunlich wenig nachgefragt“ worden.

Das sei eine durchaus überraschende Beobachtung, sagt Margraf, zumal die Zahl der Menschen mit psychischen Störungen hoch sei: „Das ist über die Lebensspanne etwa jeder Zweite und damit ist letztlich jeder betroffen, entweder selbst oder weil er jemanden kennt in der Familie oder Freundeskreis, der betroffen ist“.

„Wir tun, was andere uns vormachen.“

Einen Anstieg der Fälle von psychischen Störungen habe man gleichwohl nicht feststellen können, stattdessen in gewisser Hinsicht sogar einen positiven Effekt: „Den meisten Menschen ist in dieser Situation klarer geworden, welche Beziehungen zu anderen Menschen ihnen wichtig sind. Der Effekt ist also nicht so schlimm, wie man befürchtet hat“, sagt Margraf.

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Letzteres hänge auch damit zusammen, dass wir eigentlich sehr soziale Wesen seien: „Für das Überleben, das haben wir in Hunderttausenden von Jahren gelernt, ist die Gruppe wichtig. Deshalb tun wir, was andere uns vormachen. Das hat in unserer individualistischen Gesellschaft zwar einen schlechten Ruf und einen Beigeschmack von Konformismus, aber eigentlich ist es meistens richtig.“

Von der Angst über die Depression zur Sucht

Im ersten Lockdown sei dieses Zusammengehörigkeitsgefühl deutlich spürbar gewesen: „Wenn Sie auf die Straße gegangen sind, haben Sie zwar gemerkt, dass Leute einen weiten Bogen um Sie gemacht haben, dafür Ihnen aber auch häufiger freundlich mit dem Kopf zugenickt haben, auch wildfremde Leute.“ Dieses Anfangs-Gefühl sei inzwischen wieder verflogen: „Jetzt denken wir: Das kennen wir alles schon, das ist ja auch nicht so gefährlich. Das ist leider nicht richtig.“

Wenn man von psychischen Störungen rede, gebe es einen Verlauf zu beachten, der nicht bei allen gleich sei, sich in der Regel aber in drei Etappen gliedere: Angststörungen, Depressionen, Abhängigkeiten (Sucht). Zur Sucht komme es, weil Frauen eher Medikamente mit Abhängigkeitspotential verordnet bekämen, Männer dagegen häufiger zum Alkohol griffen.

„Psychopharmaka haben ein Abhängigkeitspotenzial“

„Viele gängige Psychopharmaka haben ein Abhängigkeitspotenzial. In Deutschland haben wir seit zwei, drei Jahren tatsächlich mehr Medikamentenabhängige als Alkoholabhängige.“ Und die nächste Welle rolle schon auf uns zu, sagt Margraf und verweist auf die sogenannten Antidepressiva, wobei er den Begriff für falsch hält: „Das ist ein Marketing-Begriff, denn diese Medikamente sind nicht spezifisch für die Behandlung von Depressionen. Sie haben tatsächlich ebenfalls ein Abhängigkeitspotenzial. Viele Menschen merken, dass sie von diesen Mitteln nicht so leicht wieder runterkommen.“

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In den USA sei es inzwischen so, sagt Margraf, dass 7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ununterbrochen wenigsten 5 Jahre lang solche Antidepressiva, sogenannte SSRI („Selektive Serontonin-Wiederaufnahmehemmer“) nehmen. In Deutschland sei man noch nicht ganz so weit, aber jeder Erwachsene erhalte theoretisch „21 Tage die volle therapeutische Dosis für eine SSRI-Behandlung. Soviel wird nämlich verschrieben“, sagt Margraf, der das für absolut unangemessen hält.

„Antidepressiva sind keine Lösung, bergen aber erhebliche Risiken“

Man versuche, Ängste und Depressionen mit Medikamenten zu lösen. „Sie bieten aber keine Dauerlösung, sondern allenfalls eine vorübergehende Linderung, haben dafür aber nennenswerte negative Effekte und bergen langfristig erhebliche Risiken wie kognitive Beeinträchtigungen oder ein höheres Demenzrisiko.“ Und wenn man ein „trizyklisches Antidepressivum“ nehme, dann belaste es das Herz und die Gefäße genauso wie das Rauchen von einer Schachtel Zigaretten am Tag.

Deshalb seien Antidepressiva definitiv keine Lösung: „Sie müssen stattdessen etwas in Ihrem Leben ändern. Was dauerhaft hilft, ist Psychotherapie - vor allem, wenn es sich um eine Verhaltenstherapie handelt.“ Medikamente dagegen hätten keine nachhaltige positive Wirkung.

„Die meisten Lehrbuchautoren stehen auf der Payroll der Industrie“

„Das Dumme ist: Unsere medizinischen Kollegen, die Psychiater, aber auch die Allgemeinärzte und Frauenärzte, das sind die Gruppen, die am meisten verschreiben. Sie werden so ausgebildet, dass sie denken: Wenn einer nicht schlafen kann, dann muss er etwas kriegen, damit er schlafen kann. Und um die Stimmung aufzuhellen, gibt es ja auch so etwas. Es gibt ein Heer von Pharmavertretern, die die Ärzte in diese Richtung bearbeiten und ihnen das Blaue vom Himmel versprechen“, sagt Margraf.

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Es gebe auch einen verhängnisvollen Einfluss der Pharmaindustrie auf die medizinische Aus-, Fort- und Weiterbildung, und zwar vom ersten Tag an, denn: „Die meisten Lehrbuchautoren stehen auf der Payroll der Industrie“. Es sei schwierig, sich diesem Einfluss zu entziehen – auch als Arzt.

Die langen Wartezeiten auf eine Psychotherapie

„Dadurch haben wir das Problem, dass – wenn Sie jetzt mit Ihrer Depression zum Arzt gehen – sehr schnell Medikamente verschrieben werden. Das liegt auch daran, dass die Wartezeiten auf eine Psychotherapie hier in Nordrhein-Westfalen besonders lang sind, vor allem im Ruhrgebiet. Dann wird gesagt: Hier haben Sie mal was, das wird ihnen guttun. Aber auch das ist falsch, denn der Körper holt sich den Schlaf, den er braucht.“ Gängige Schlafmittel dagegen, sagt Prof. Margraf, zerstörten schon nach kurzer Zeit die natürlich Schlafarchitektur. Trotz allem gehörten Psychopharmaka zu den am meisten verschriebenen Medikamenten, sagt er.

Im Übrigen habe sich in unserer Gesellschaft auch etwas verschoben, wenn es um die Definition von dem gehe, was man als krankhaft einstufe: „Früher hat man gesagt: Wenn Sie einen Trauerfall haben, dann dürfen Sie bis zu sechs Monate trauern. Das nannten wir nicht Depression, sondern Trauer. Heute kann man schon nach zwei Wochen sagen: Das ist jetzt aber irgendwie krankhaft“, sagt Prof. Margraf.