Neue Schauspielintendantin inszeniert Dortmunds dunkle Stunden
Schauspiel Dortmund
Mit „2170“ zeigt die neue Schauspielintendantin am Theater Dortmund, Julia Wissert, ihre erste Regiearbeit. Es ist eine faszinierende und spannende Tour durch die Stadt.

Vor dem „Horrorhaus“ in Dortmund: Sarah Yawa Quarshie und Bettina Engelhardt (als Schattenriss) sorgen sich um die Bewohner. © Hupfeld
Was die imposante Länge des Stücktitels angeht, hat Wissert schon mal die Nase vorn. „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden? Ein Weg durch die Stadt in fünf Texten und vielen Schritten“ heißt das Stationen-Drama, das am Freitagabend in Dortmund Uraufführung feierte.
Dahinter steckt aufgrund der Corona-Pandemie eine Tour durch Dortmund – bei Nacht und mit Abstand. Oder besser: ein Abenteuer. Intensiv, rätselhaft, kritisch, aufschlussreich und keine Minute langweilig. Wer mitgeht, sollte sich allerdings warm anziehen – im wörtlichen Sinn (am besten Daunenjacke!), aber auch, was die Geschichte Dortmunds angeht.
85 Gäste in drei Gruppen
85 Teilnehmer werden in drei Gruppen aufgeteilt. Sie erleben in drei Stunden Szenen von fünf Autoren an unterschiedlichen Orten – hinter dem Hauptbahnhof, auf der Treppe davor und auf der LED-Wand des Fußballmuseums, am unbewohnbaren „Horrorhaus“ an der Kielstraße 26, im Schauspielhaus und vor der Oper.
Dabei fasziniert schon die erste Szene im Schauspielhaus. Langsam betritt die Gruppe einen seltsamen Ort. Dichter Nebel wabert, Laserstrahlen scheinen ihn in Scheiben zu schneiden. Totale Orientierungslosigkeit. Dann klärt es sich auf. Wir stehen auf der Bühne! Und im Zuschauerraum ruft der Phönix im Clowns-Kostüm „Die Zukunft ist jetzt jetzt“.
Zeitreise in die Vergangenheit
Doch die Zeitreise von „2170“ geht eher in die Vergangenheit. Eine Nestbeschmutzung ist sie nicht. Den fünf Autoren gelingt ein wahrhaftiger, poetisch überhöhter Blick auf die Schichten der Geschichte.
Am besten funktioniert das in der mitreißenden Szene der kurdisch-deutschen Autorin Karosh Taha vor der Hochhausruine an der Kielstraße. Taha kommentiert ganz sachlich dessen Geschichte vom einst modernen Entwurf bis zum Abriss in der Zukunft. Dazu kommen fiktionale und verstörende Geschichten der Bewohner bis zu ihrem Verschwinden. „Das Viertel ist erblindet“, heißt es gegen Ende.
Kostümbildnerin För Künkel hat Sarah Yawa Quarshie, Nika Miškovic, Bettina Engelhardt und Alexander Darkow in Overalls oder einfache Flickenjacken gekleidet. Verzweifelt rennt das Quartett hin und her vor dem Haus, das wie ein düsterer Turm über der Szene hockt.
Flüchtlingsschicksal und Republikgründung
Tief beeindrucken auch Anton Andreew und Valentina Schüler. Als Bruder und Schwester versuchen sie, von der Nordstadt aus den Hauptbahnhof als Grenze zu überwinden. Der Text von Ivana Sajko deutet ein Flüchtlingsschicksal an.
„Seitdem bin ich Eisen, man kann mich nicht brechen“, sagt der Bruder in den Kopfhörern, die die Zuschauer in dieser Szene tragen. Weniger gut zu kapieren ist die geplante Gründung einer „Republik der Dichterinnen und Denker“. Den Text von Akin E. Sipal versucht Adi Hrustemovic vor dem Hauptbahnhof mit tollem Körpereinsatz lebendig zu machen.
Bus kutschiert Publikum
Schön ist, dass die Wege kurz sind. Für die längeren Abschnitte stehen Busse bereit. Wegen Corona nimmt jeder Gast einen Doppel-Sitz, was die Inszenierung teuer machen dürfe. Vor Ort stehen hier und da Hocker bereit.
So treffen sich die Gruppen recht fit vor dem Opernhaus wieder. Dort beschreibt das Ensemble auf dem Platz der Alten Synagoge mit dem besten Text des Abends von Sivan Ben Yishai die Demontage des Gotteshauses durch die Nazis – eine von Dortmunds dunkelsten Stunden.
„2170“ löst nur teilweise das Versprechen ein, mit uns in die Zukunft zu reisen. Wie kraftvoll und poetisch der Abend von Vergangenheit und Gegenwart erzählt, ist jedoch ein Erlebnis.