Millionen Dosen auf Lager: Stocken die Impfungen in Deutschland?

Coronavirus

In Deutschland liegen rund vier Millionen Impfstoffdosen bislang ungenutzt in den Lagern. Auch wegen der erneuten Prüfung des Astrazeneca-Impfstoffs sind offenbar Dosen zunächst liegen geblieben.

Hannover

26.03.2021, 08:46 Uhr / Lesedauer: 4 min
Hätten schon viel mehr Menschen geschützt werden können? Rund vier Millionen Dosen liegen derzeit noch unverimpft in den Lagern.

Hätten schon viel mehr Menschen geschützt werden können? Rund vier Millionen Dosen liegen derzeit noch unverimpft in den Lagern. © picture alliance/dpa

Für einen Impforganisator klingt er dieser Tage ungewöhnlich zufrieden. Aber tatsächlich sieht sich Theodor Windhorst gerade in einer aus seiner Sicht komfortablen Situation: 1800 Dosen des Corona-Impfstoffs von Astrazeneca lagern aktuell in seinen Kühlschränken. „Wir machen uns ein kleines Polster“, sagt der Leiter des Bielefelder Impfzentrums.

Der Vorrat stammt zum größten Teil aus der vergangenen Woche, als die Gabe der Vakzine wegen der Überprüfung kurzzeitig ausgesetzt war. Außerdem wollten sich einige Mitarbeiter mobiler Pflegedienste nicht impfen lassen – da seien noch mal insgesamt Dosen zurückgekommen.

Doch das Horten ist für Windhorst kein Selbstzweck: Der oberste Impforganisator der ostwestfälischen Stadt baut vor für die kommende Woche, wenn Nordrhein-Westfalen deutlich weniger Astrazeneca-Impfstoff erhält als ursprünglich angekündigt. Dann will Windhorst seinen Vorrat rasch aufbrauchen: „Wir wollen keine Termine absagen müssen.“ Das wäre ihm ein Gräuel.

Acht Impfstraßen in Betrieb

Windhorst, Chirurg im Ruhestand und bis vor Kurzem Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, 70, ist jemand, der das Impftempo auch mit deutlichen Worten und unkonventionellen Methoden beschleunigt, wenn es der Sache dient. „Ich bin Arzt, kein Bürokrat“, betont er. Was die Spedition Kühne+Nagel jeden Morgen zwischen 6 und 10 Uhr in das Impfzentrum in der Bielefelder Stadthalle liefert, soll bis zum Abend gespritzt sein.

Acht Impfstraßen hat Windhorst in Betrieb, 1300 Impfungen schaffen sie hier pro Tag, bis 1500 könnten sie noch hochgehen. Auch der Astrazenenca-Impfstoff sei bei ihnen nach dem kurzen Stopp wieder sehr gefragt, er habe sogar noch nachgeordert. Am Abend sei in der Regel alles verimpft, zur Not würden noch Polizisten einbestellt. Am Abend sei das meistens eine „Punktlandung“. Sein einziger Wunsch wäre: noch mehr Impfstoff.

Jetzt lesen

Das heißt also: Hier liegt von den rund eine Million Impfdosen, die allein in Nordrhein-Westfalen schon geliefert, aber noch nicht verimpft sind, schon mal ziemlich wenig. Aber wo liegen sie dann?

Bei den Impfdosen gibt es in Deutschland eine auffallende Kluft: 15,6 Millionen Impfdosen sind bislang insgesamt geliefert worden – aber nur gut 11,7 Millionen Impfungen sind hier bisher auch verabreicht worden. Macht rund vier Millionen Dosen, die rein rechnerisch bislang ungenutzt in den Lagern liegen. Kriegt Deutschland selbst den wenigen Impfstoff einfach nicht zu den Menschen?

Fehlendes Vertrauen in Astrazeneca?

Der Verdacht ist nicht neu, bekräftigt hat ihn zuletzt etwa der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen. „Der Berg an unverimpftem Impfstoff wird immer größer“, twitterte er am Donnerstag. „Wir müssen endlich 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche impfen.“ Die Gesundheitsminister wiederum verwahren sich dagegen. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) etwa sprach jetzt von „Falschmeldungen zu ‚Impfdosen auf Halde‘“. Doch was ist mit den Dosen dann?

Als eine vordergründig plausible Erklärung für zumindest einen Teil gilt fehlendes Vertrauen in den Astrazeneca-Impfstoff, dessen Einsatz die Behörden zuletzt wegen Thrombosefällen bei Geimpften kurz gestoppt hatten. Im Berliner Impfzentrum Tegel zum Beispiel sind für die nächsten Tage auffallend viele Termine für Astrazeneca-Erstimpfungen noch frei; Termine für Biontech/Pfizer-Impfungen sind dagegen weitgehend ausgebucht. Dagegen ist aus mehreren Impfzentren zu hören, dass sich die Nachfrage, ähnlich wie in Bielefeld, kurz nach Wiederzulassung auch rasch wieder normalisiert habe.

In Bremen und Thüringen blieb weniger liegen

Tatsächlich sind die Gründe für die zurückgehaltenen Impfdosen offenbar komplexer, wie eine Umfrage unter den Ländern ergibt. Diese sind auch in durchaus unterschiedlichem Umfang betroffen. So sind in Nordrhein-Westfalen etwa 30 Prozent aller Impfstoffdosen, die das Bundesland überhaupt geliefert bekommen hat, noch nicht verimpft.

In Niedersachsen sieht es nur wenig besser aus, dort sollen rund 26 Prozent aller gelieferten Impfdosen noch nicht genutzt worden sein. In Bayern sind es rund 20 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 31 Prozent, in Sachsen rund 28 Prozent und in Brandenburg etwa 26 Prozent.

Allein in Bremen und Thüringen ist das Impfen schneller vorangeschritten. Hier sind laut Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums nur rund 15 Prozent aller gelieferten Impfdosen bisher ungenutzt geblieben.

Zuständig für das Management der Impfungen sind die einzelnen Bundesländer. Das Bundesgesundheitsministerium spricht lediglich Empfehlungen aus, an denen sich die Länder allerdings oftmals orientieren. Anfangs hatte das Ministerium dazu geraten, einen bestimmten Teil der Impfstoffdosen für die Zweitimpfungen zurückzuhalten. Mittlerweile tue man dies nicht mehr, teilt ein Sprecher der Behörde jetzt mit.

Das Bundesgesundheitsministerien plädiert nun dafür, so wenig Impfstoff wie nur möglich für Zweitimpfungen zurückzuhalten. In einer Empfehlung von Mittwoch habe das Ministerium erneut dazu geraten, „auf Zurückstellungen weitestmöglich zu verzichten“. Einen Richtwert, an dem sich die Länder orientieren können, gebe es nicht.

Zunächst wurden 50 Prozent zurückgehalten

Dass viele Bundesländer allerdings zurückhaltender mit den Impfstofflieferungen umgegangen sind, dürfte ein Grund dafür sein, dass teilweise noch Hunderttausende Dosen von Impfstoffen ungenutzt geblieben sind. Man habe anfangs 50 Prozent der gelieferten Impfdosen von Biontech und Moderna zurückgehalten, um eine Zweitimpfung sicherstellen zu können, erklärt eine Sprecherin des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums. Das geschah, um auf Lieferengpässe reagieren zu können.

Der Biontech/Pfizer-Impfstoff ist nicht nur in Nordrhein-Westphalen, sondern in ganz Deutschland der bei Weitem am meisten gelieferte Impfstoff. Mehr als zwei Drittel aller Dosen im Land, rund 11 Millionen, stammen vom deutsch-amerikanischen Unternehmensgespann. Wird hiervon ein größerer Anteil zurückgehalten, wirkt sich das auf die Zahlen deutlich aus.

Ein Rückstau wegen der Prüfung

Mittlerweile würde man in Nordrhein-Westfalen nur noch einen möglichst geringen Anteil an Impfstoffdosen als Reserve zurückhalten, sodass sich das Kontingent abbauen werde, sagte die Sprecherin des dortigen Gesundheitsministeriums an Donnerstag. Ende der Woche sollen in dem Bundesland die Lagerbestände an Moderna- und Astrazeneca-Impfstoffen aufgebraucht sein. Bei dem Biontech-Impfstoff werde es noch einige Tage länger dauern.

Bayern macht auch die zeitweilige Aussetzung der Impfungen mit Astrazeneca für die Verzögerung verantwortlich. Der Rückstau sei noch nicht ganz abgearbeitet. Aktuell sei nun aber ein Großteil der in der Statistik noch als unverimpft auftauchenden Dosen in Bayern auf dem Weg in die Impfzentren, erklärte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. Um Lieferausfälle aufzufangen und Zweitimpfungen sicherstellen zu können, würden derzeit noch 3,4 Prozent der gelieferten Impfungen zurückgehalten, überwiegend von Biontech/Pfizer.

NRW will „Strecke machen“

Sachsen wiederum bunkert nach Angaben des Sozialministeriums 50 Prozent der Lieferungen von Moderna und 20 Prozent der Lieferungen von Biontech, ebenso hält es Mecklenburg-Vorpommern. Alle nicht verimpften Dosen seien entweder zurückgehaltene Impfdosen für Zweitimpfungen oder bereits für einen Impftermin verbucht.

Das Gleiche versichert auch NRW-Gesundheitsminister Laumann für sein Bundesland. Mittlerweile habe er auch die Kreise und kreisfreien Städte des Bundeslandes darum gebeten, Personen aus der zweiten Prioritätsgruppe vorzuziehen, falls bei ihnen vor Ort gelieferte Impfstoffmengen ungenutzt bleiben. Die Regelung gilt zunächst bis zum Start der Impfungen in den Hausarztpraxen am 6. April. Man wolle Strecke machen, erklärt Laumann. Eine Formulierung, ganz nach dem Geschmack des hemdsärmeligen Bielefelder Impforganisators Windhorst: „Jede Verzögerung beim Impfen“, sagt er, „ist Mist.“

RND

Schlagworte: