Personalmangel mit fatalen Folgen Erste Kitas in NRW betreuen Kinder nur noch bis mittags

Ausbau neuer Kita-Plätze mit Riesen-Problem: Eklatanter Mangel an Erzieherinnen
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Bonn, Wuppertal, Solingen, Köln, Osnabrück. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. In den vergangenen Monaten häufen sich die Meldungen, dass einzelne Kitas oder ganze Städte die Betreuungszeiten in den Kitas kürzen. Der Grund ist immer der gleiche und zwar bundesweit: Es herrscht ein katastrophaler Mangel an Erzieherinnen und Erziehern, an Kinderpflegerinnen und -pflegern.

Den bisher drastischsten Schritt kündigte Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) in diesen Tagen an. Ab September werden die Betreuungszeiten in den städtischen Kitas der 92.000 Einwohner großen Unistadt deutlich reduziert. Im Regelfall müssen die Kinder dann bereits um 13.15 Uhr aus der Kita abgeholt werden. Für viele berufstätige Eltern schlicht und einfach unmöglich. Er wisse das, sagt Boris Palmer, aber es gehe nicht anders. Es fehle einfach das Personal.

Im Raum Dortmund aktuell frei: 995 Stellen für Erzieherinnen und Erzieher

Einen so radikalen Schritt wie in Tübingen hat bisher noch keine Stadt in NRW angekündigt, aber die Lage hier ist ebenfalls alles andere als rosig. Ein Blick auf das Job-Portal der Bundesanstalt für Arbeit vermittelt einen Eindruck, wie dramatisch die Lage tatsächlich ist.

Am Dienstag (28. Februar) wurden morgens um 9.30 Uhr über das Job-Portal im 50-Kilometer-Umkreis rund um Dortmund folgende Fachkräfte gesucht: 368 Erzieherinnen und Erzieher, 213 Kinderpflegerinnen und -pfleger, 96 Kita-Leitungen. Im Umkreis von 100 Kilometern wurden sogar 995 Stellen für Erzieherinnen und Erzieher, 584 in der Kinderpflege und 283 Kita-Leitungen angeboten. Zahlen, die eine eindeutige Sprache sprechen.

Bertelsmann-Stiftung: 24.400 Kita-Fachkräfte fehlen NRW

Im Herbst hat die Bertelsmann-Stiftung eine Studie unter anderem zur Kita-Situation in Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. Das Fazit: Gemessen am Betreuungsbedarf fehlen in NRW 101.600 Kita-Plätze. Um die Nachfrage nach Kita-Plätzen decken zu können, müssten 24.400 Fachkräfte zusätzlich neu eingestellt werden.

Mit den aktuellen Ausbildungskapazitäten dürfte das kaum möglich sein, denn es müssen ja nicht nur Kräfte für zusätzliche Stellen her, sondern es müssen auch ausscheidende Kräfte ersetzt werden.

Zahl der Ausbildungsplätze erhöht

Nach Auskunft des nordrhein-westfälischen Schul- und Bildungsministeriums wurden in den vergangenen Jahren die Ausbildungskapazitäten deutlich erhöht. So sei in der Aus- und Weiterbildung zum Erzieher die Zahl der Schülerinnen und Schüler sowie der Studierenden von 19.615 im Jahr 2010 auf 25.870 im Jahr 2022 gestiegen.

Die Zahl der Absolventinnen und Absolventen aus den Bildungsgängen der Fachschule für Sozialpädagogik und des Beruflichen Gymnasiums Erzieher, blieb seit 2018 auf dem etwa gleichen Niveau von knapp 6.500.

Der Anstieg der Kapazitäten ist sicherlich erfreulich, ausreichend ist er nicht, das macht nicht zuletzt der Ausbau der Plätze deutlich.

Für das laufende Kindergartenjahr, das teilte das nordrhein-westfälische Familienministerium auf Anfrage unserer Redaktion mit, gibt es in NRW für Kinder unter drei Jahren 148.978 Kita-Plätze. Das entspricht einer Versorgungsquote von 28,7 Prozent (im Vorjahr lag die Quote bei 28,0 Prozent). Der Betreuungsbedarf aber liegt laut Bertelsmann-Stiftung bei 44 Prozent.

Aktuell wird in NRW die Lücke zu einem ordentlichen Teil durch das Angebot der Tagespflege geschrumpft. Dafür stehen derzeit 67.600 Plätze zur Verfügung. Insgesamt gibt es daher für Kinder unter 3 Jahren 216.638 Betreuungsplätze, eine Quote von 41,7 Prozent (vor einem Jahr waren es 40,6 Prozent).

So ist das mit dem Rechtsanspruch

Zur Erinnerung: Kinder ab einem bis unter drei Jahren (davon gibt es aktuell 344.371 Jungen und Mädchen in NRW) haben einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kita oder Tagespflege.

Ab drei Jahren gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Hier liegt die Versorgungsquote inzwischen bei knapp 100 Prozent. Insgesamt gibt es in NRW aktuell 10.500 Kitas. 27 Prozent befinden sich laut Ministerium in kommunaler, 33 Prozent in kirchlicher Trägerschaft und 32 Prozent in der Trägerschaft anderer freier Träger. 8 Prozent werden von Elterninitiativen geführt.

Laut Familienministerium stehen im aktuellen Kindergartenjahr 10.433 Betreuungsplätze mehr zur Verfügung als im Vorjahr, davon alleine 5.552 für Kinder unter drei Jahren.

„Ausbau nicht mit der notwendigen Priorität verfolgt“

Das große Problem beim Kita-Ausbau ist daher weiterhin weder der Neubau von Räumlichkeiten noch die Finanzierung. Der größte Bremsklotz ist das Personal. „Der weiterer Platzausbau kann nur gelingen, wenn wir vor allem den Fachkräftemangel entschieden angehen“, schreibt das Familienministerium unserer Redaktion.

Und NRW-Familienministerin Josefine Paul ergänzt: „Zu einer ehrlichen Analyse gehört dabei auch, dass in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Ausbau und Weiterentwicklung – bei allen qualitativen und quantitativen Entwicklungen – nicht mit der notwendigen politischen Priorität verfolgt wurde. Es braucht jetzt ein großes Bündel an Maßnahmen und einen langen Atem.“

Und dann gibt es da noch die Konkurrenz zu anderen Branchen

Bei der Gretchenfrage, wie viele Kita-Fachkräfte denn jetzt tatsächlich fehlen und wie viele ausgebildet werden müssten, weicht das Familienministerium aus. Die Zahlen der Bertelsmann-Stiftung stuft das Ministerium gegenüber unserer Redaktion als wenig aussagekräftig ein: „Sie sind kaum geeignet, um Aussagen über den tatsächlichen Fachkräftemangel in NRW zu treffen“, heißt es aus dem Ministerium. Deshalb wolle man jetzt eigene Zahlen erheben.

Dass es einen erheblichen Mangel gibt und Handlungsbedarf besteht, zeigt übrigens nicht zuletzt das Anfang Februar vom Land vorgestellte „Sofortprogramm Kita“, das unter anderem eine Fachkräfteoffensive einschließt inklusive der Anwerbung von Seiteneinsteigern. Zudem gibt es jetzt im Ministerium eine „Koordinierungsstelle zum Fachkräfteausbau“.

Dabei dürfte auch dem Familienministerium klar sein: Nicht nur Kitas suchen Fachkräfte, sondern viele Betriebe aller möglichen Branche suchen ebenfalls verzweifelt gute Nachwuchskräfte. Das macht die Sache für Kitas nicht gerade einfacher.

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