Kulttrainer hätte Özil und Gündogan zu Hause gelassen
Peter Neururer kritisiert DFB in Erdogan-Affäre
Wenn in der kommenden Woche die WM in Russland beginnt, wird auch Peter Neururer wieder ganz genau hinsehen. Als Fan. Aber auch als Trainer. Der 63-Jährige zeigt sich wie gewohnt in Plauderlaune und spricht über seine WM-Erlebnisse, Taktik und Mesut Özil und Ilkay Gündogan.

Derzeit heißt es eher Golf- statt Fußballplatz: Doch Peter Neururer wird auch bei der WM ganz genau hinschauen. © dpa
Sind Sie schon im WM-Fieber?
Wenn man es denn als solches bezeichnen kann, dann ja. Nur dieses „WM-Fieber“ ist durch das Auftreten in Österreich und die Diskussionen um Ilkay Gündogan und Mesut Özil ein klein wenig abgeschwächt worden. Das habe ich nicht nur bei mir festgestellt, sondern auch bei vielen, vielen Fans, mit denen ich zu tun habe. Aber wenn es dann losgeht, klopfen wir uns alle auf unsere Finger und hoffen, dass Deutschland als dritte Mannschaft nach Italien und Brasilien den Titel verteidigen kann.
Sie sind seit fast 50 Jahren im Fußball-Geschäft tätig. Warum hat man Sie noch nie bei einer Weltmeisterschaft gesehen?
Das hat man doch …
Hat man?
Ich bin immer bei den Weltmeisterschaften. Seit 1962 schon. Die erste WM, die ich erleben durfte, war in Chile. Als Siebenjähriger.
Okay, wenn man es so sieht, haben Sie natürlich recht. 1962 ist lange her, welche Erinnerungen haben Sie daran?
Hängengeblieben ist vor allem dieses eigenartige Tor der Jugoslawen gegen Deutschland im Viertelfinale, durch das das deutsche Team dann ausgeschieden ist. Anschließend war mein Vater dann nicht ganz so einverstanden mit meinem Verhalten.
Was ist passiert?
Ich habe mich mehr oder weniger echauffiert - über die bessere deutsche Mannschaft und die aus meiner Sicht sehr schlechte Schiedsrichterleistung. Er meinte, dieses Verhalten sei sportlich nicht angemessen gewesen. Und ab da habe ich es dann jahrelang mit meinem Vater gehabt.
Jahrelang?
1966 im Finale zwischen Deutschland und England gab es nochmal eine ähnliche Situation, als ich Schieds- und Linienrichter beim Wembley-Tor beschimpft und beleidigt habe. Als Elfjähriger.
Hat’s wieder Ärger gegeben?
Ich habe von meinem Vater die einzige Ohrfeige meines Lebens bekommen. Er hat mir klargemacht, und das hat ja gerade Uwe Seeler damals auch vorgelebt, dass ein deutscher Fußballer auch Anstand und Respekt in Niederlagen haben muss. Das ist eine Sache, die ich nie vergesse, das habe ich mein ganzes Leben lang mitgenommen.
Sie waren ganz schön viel unterwegs, um die WM-Spiele zu verfolgen…
Selbst 1974, direkt nach meinem Abitur, war ich beim Endspiel Deutschland gegen Holland. Ich hatte damals Karten über, ich sag‘ jetzt mal, „etwas eigenartige“ Beziehungen bekommen. Ich bin dann mit einem Kumpel nach München getrampt, wir stehen vorm Stadion und plötzlich kommen zwei Niederländer an, ohne Karten, und bieten mir insgesamt 250 Mark pro Karte an. Das war viel Geld, zumal ich gerade anfangen wollte zu studieren.
Nicht schwach geworden?
Ich hab mir nur gedacht: Das ist vielleicht etwas Einmaliges, wenn deine vergötterten Idole jetzt Weltmeister werden. Und was würde ich später meinen Kindern erzählen, wenn ich die Karten verkauft hätte. Diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen. Aber am Ende hat es sich ja gelohnt.
Haben Sie die Karten noch?
Nein. Ich bin kein Sammler, sondern war nur ein Jäger.
Vermisst man solche Reisen, solche Erlebnisse mittlerweile manchmal?
Wertigkeit und Wertschätzung haben leider verloren. Es ist ja nichts Besonderes mehr, wenn man um die Welt fliegt. Fast alles ist heutzutage selbstverständlich.
Das war damals anders …
Wenn ich mir vorstelle, wie ich 1978 mit meinem selbstgespartem Geld und einem kleinen Zuschuss der Eltern nach Argentinien gefahren bin … das war ja für uns eine ganz andere Welt. Für uns war klar, dass in Argentinien nur die Sonne scheint. Dass Argentinien aber natürlich auch nahe Feuerland liegt, und damit auch nahe des Südpols, haben wir damals nicht so ganz bedacht. Da haben wir uns mit unseren Sommerklamotten fast totgefroren und mussten erstmal Winterkleidung kaufen.
Ich sehe, Sie waren wirklich bei vielen Weltmeisterschaften. Ich formuliere meine ursprüngliche Frage mal um: Warum hat man Sie nie in einer aktiven Rolle bei einer WM gesehen?
Als Fußballer selbst war ich zwar immer in der Weltklasse unterwegs, aber habe immer in der falschen Liga gespielt (lacht). Als Trainer hatte ich dann überhaupt keine Ambitionen. Ich hatte zwar während meiner Karriere mehrmals Angebote, als Nationaltrainer zu arbeiten. Angefangen von Ägypten über den Iran, Senegal und Kamerun bis hin nach Ghana. Aber das war nie mein Ding, weil ich der typische Vereinstrainer bin, der lieber tagtäglich mit einer Mannschaft zusammenarbeitet.
Wie verfolgen Sie denn eine Weltmeisterschaft - eher als Fan oder doch als Trainer?
Sowohl als auch. Ich war ja auch als Trainer in der glücklichen Lage, Spieler bei einer WM dabei gehabt zu haben. Ich habe Weltmeister trainiert. Daher habe ich einen Bezug zu der Sache und zu den Spielern.
Aus Trainersicht: Wie sehr interessieren Sie mögliche, neue taktische Entwicklungen bei einer WM?
Ich bin seit zig Jahren unglaublich enttäuscht darüber, dass es bei Weltmeisterschaften eigentlichen gar keine wirklich neuen Entwicklungen gibt, sondern Dinge einfach nur als neu verkauft und neu genannt werden.
Also alles, was dem Fan in den vergangenen Jahren als taktische Innovation verkauft wird, ist aus Ihrer Sicht gar nicht neu?
Nicht aus meiner Sicht, sondern aus Sicht derer, die ein bisschen Kenntnis von Fußball haben. Die schütteln eigentlich nur den Kopf.
Können Sie ein Beispiel geben?
Was man früher unter Ernst Happel Forechecking genannt hat, heißt heute Pressing. Oder nehmen Sie die Entwicklung der Viererkette: Hannes Bongartz hat mit Wattenscheid 09 Mitte/Ende der 80er erst in der zweiten, dann in der ersten Liga mit Viererkette gespielt. Schon damals sprach die Fachwelt von einem super modernen System. Dass es aber bereits Anfang der 19. Jahrhunderts gespielt worden ist, das haben die meisten vergessen.
Sie scheinen kein Freund dieser Debatten zu sein …
Dieses ganze System- und Taktik-Gequatsche ist aus meiner Sicht ein ziemlicher Blödsinn, meistens initiiert von irgendwelchen Leuten, die meinen, den Fußball neu erfunden zu haben und dann neue Begriffe nehmen.
Hat sich gar nichts verändert?
Es gibt natürlich unterschiedliche taktische Ausrichtungen. Aber da liegt ja schon das nächste Problem. Viele reden von taktischen Ausrichtungen, kennen aber noch nicht einmal den Unterschied zwischen Taktik und System. Das sind zwei grundlegend unterschiedliche Dinge. Beispiel: das 4-3-3-System. Ich habe eine Viererkette, drei Mittelfeldspieler und drei Stürmer. Das wäre klassisch 4-3-3. Damit sage ich allerdings noch nichts darüber aus, ob diese Mannschaft defensiv oder offensiv spielt, also wie sie sich taktisch verhält. Je nachdem, wie ich die Spieler positioniere, kann ich es total defensiv spielen oder brutal offensiv.
Wie stehen Sie denn zum Thema Ballbesitz?
Das ist ja auch so ein hochphilosophisches Thema. Zuletzt beim Spiel Deutschland gegen Österreich hatte das deutsche Team 75 Prozent Ballbesitz. Und was ist dabei herausgekommen? Gar nichts! Bayern München hatte unter Pep Guardiola 70, 75 Prozent Ballbesitz, auch auf höchster internationaler Ebene. Und was ist dabei herausgekommen? Gar nichts! Entscheidend ist, was ich mit dem Ballbesitz mache. Wo ich mich positioniere, und wo ich den Ballbesitz habe.
Wenn Sie schon alles gesehen haben, womit könnte man Sie denn bei der WM noch überraschen?
Höchstens vielleicht, indem man drei, vier, fünf Spieler aufstellt, die keiner kennt und die ich selbst nicht einschätzen kann. Aber sicherlich nicht mit Systemen oder taktischen Dingen.
Muss man in diesen Bereichen flexibel sein?
Wenn ich irgendwo hinkomme und mein Konzept vorstelle, dann sagt derjenige, der Fachkenntnis hat: „Schön, dass Sie so ein Konzept haben. Aber wir haben andere.“ Also muss ich das System und auch die taktische Ausrichtung immer grundlegend nach den Fertigkeiten und den Fähigkeiten meiner Spieler einsetzen und beurteilen. Und zwar in Verbindung mit den Stärken und Fähigkeiten des jeweiligen Gegners. Aber darf ich Ihnen in diesem Zusammenhang mal eine Frage stellen?
Ich bitte darum.
Ich selbst habe 619 Pflichtspiele als Profi-Trainer gemacht. Was glauben Sie, wie viele Spiele davon meinen fußballerischen Idealvorstellungen entsprochen haben?
Hm… ich rate einfach mal: zwanzig?
Es waren zwölf. Zwölf Spiele habe ich so spielen lassen, wie ich mir das vorstelle von einer Mannschaft, wie sie spielen kann. Bei allen anderen Spielen musste ich reagieren. Aber das hat ja Gründe …
Welche?
Ich hatte immer Zielvorgaben zu erfüllen. Entweder musste ich aufsteigen. Oder wenn ich dann aufgestiegen bin, musste ich die Klasse halten. Zudem hatte ich nie Mannschaften, die so bestückt waren auf den einzelnen Positionen, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich war halt nicht Trainer bei Bayern München oder bei Borussia Dortmund in den guten Zeiten oder den noch besseren Zeiten bei Borussia Mönchengladbach. Natürlich war ich bei vielen großartigen Vereinen, aber ich musste irgendwas immer retten, weil die Vereine immer in schlechten Positionen waren.
Wie sieht denn Ihre Idealvorstellung von Fußball aus?
Mein Fußball ist total offensiver Fußball. Ich würde hinten immer mit einer Dreierkette spielen lassen. Immer mit zwei Sechsern davor. Und der Rest spielt brutalst offensiv. Mit Pressing. Oder Forechecking, wie auch immer man es nennen will. Mit eigenem Aktionsfußball. Mit Ballbesitz. Aber nicht Ballbesitz auf Ballbesitz bezogen, sondern abschlussorientiertem Ballbesitz. Aber wo soll ich das spielen lassen? Das kann ich mit Bayern München spielen …
Auf welche Mannschaft freuen Sie sich denn bei der WM besonders?
Auf die deutsche Mannschaft. Wenn sie das spielt, was sie spielen kann und nicht das spielt, was sie spielen möchte. Diesen Ballbesitzfußball wie in der ersten Halbzeit gegen Österreich, den können wir nicht spielen. Das ist gar nicht unsere Art.
Hat das Team da vielleicht den lange erfolgreichen Spaniern nachgeeifert?
Dann hätten wir den größten Fehler überhaupt gemacht. Wenn wir jemanden nachahmen wollen, spielen wir nicht mehr unser eigenes Spiel. Und wenn wir das nicht tun, werden wir auch nicht Weltmeister. Die Spanier sind superklasse, spielen jetzt auch wieder mit Keilstürmer und gehen weg vom Tiki-Taka, das kein Mensch braucht.
Und der Rest?
Die Franzosen spielen überragend nach vorne. Sensationell. Genauso die Brasilianer mit Neymar, der wieder im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein scheint. Sie haben allerdings Probleme im Defensivverhalten wie auch Frankreich. Wenn wir unser Potenzial abrufen und nicht auf die anderen schauen, gehören wir wieder zu den Favoriten.
Wenn Sie alle Weltmeisterschaften nehmen, die Sie verfolgt haben: Welches ist Ihre Lieblingsmannschaft?
Deutschland 2014 und 1990.
Was hat diese Teams so besonders gemacht?
Unter anderem mein persönlicher Bezug zu den Spielern. 1990 war es Bodo Illgner, den ich trainiert habe. Dazu gab es noch solche Jungs wie Lothar Matthäus oder Rudi Völler. Von den 2014er-Weltmeistern hatte ich Per Mertesacker in meinem Team bei Hannover 96. Was die geleistet haben, ist schon außergewöhnlich.
Aber auch 2014 war nicht alles überragend, oder?
Die Gruppenphase, das Spiel gegen Algerien - das war sicherlich nicht weltmeisterlich. Aber was daraus entstanden ist, war grandios. Da hat man gesehen, welche Qualität dieser Kader hatte. Selbst das Finale ist durch zwei Einwechselspieler entschieden worden. Mit Mario Götze und mit André Schürrle.
Sie sagten, Sie sind Anhänger von Offensivfußball. Vermissen Sie die Niederländer bei der WM?
Natürlich. Ich finde es schade, dass sie nicht dabei sein. Sie haben immer sehr attraktiv gespielt. Auch Italien gehört zur WM.
Wie überrascht waren Sie davon, dass Joachim Löw auf Leroy Sané verzichtet?
Ich war mehr als überrascht. Was Leroy Sané in der vergangenen Saison bei Manchester City gezeigt hat, war teilweise absolute Weltklasse. Was er, das muss man auch zugeben, in den Länderspielen allerdings noch nicht gezeigt hat. Aber: Er ist jung, entwicklungsfähig. Da wundere ich mich eben, dass ein Spieler, der in der Offensive so vielfältig einsetzbar ist, nicht mitgenommen wird. Aber das kann am Ende nur Jogi Löw entscheiden. Ich bin nicht beim Training.
Hätten Sie Mesut Özil und Ilkay Gündogan nach der Erdogan-Affäre mitgenommen?
Auf keinen Fall. Das hat keine sportlichen Gründe. Denn in diesem Bereich sind beide überragend. Diese Verhaltensweise in Verbindung mit der deutschen Nationalmannschaft geht für mich allerdings gar nicht. Aber in dieser Sache ist ja eigentlich der DFB gefordert …
… der den Vorfall nicht gerade konsequent verfolgt hat.
Fußball soll keine Politik machen. Aber in diesem Fall hat Fußball verdammt viel Politik gemacht. Von daher wäre für mich die einzige Konsequenz gewesen, die beiden zu Hause zu lassen, auch wenn ich zu beiden persönlich ein gutes Verhältnis habe. Aber ich habe den DFB auch noch nicht als konsequent kennengerlernt.
Wird zu oft mit zweierlei Maß gemessen?
Wenn ich mir überlege, dass Stefan Effenberg 1994 bei der WM in den USA dauerhaft aus der Nationalmannschaft rausgeworfen wurde, weil er total betrunkenen, deutsch gekleideten Fußballzuschauern den Finger gezeigt hat - was sich sicherlich nicht gehört - stimmt das Verhältnis nicht mehr. Oder Max Kruse, einer der besten Offensivspieler der Bundesliga, wird rausgeschmissen, weil er falsche Fotos verschickt und Zehntausende Euro verzockt hat, was sicherlich auch nicht schön ist. Und wenn ich dann sehe, dass diese beiden Spieler Politik machen und nicht rausgeschmissen werden, dann sagt das alles.
Peter Neururer wurde am 26. April 1955 in Marl geboren. Als aktiver Fußballer spielte er in der Amateur-Oberliga. Einen Namen hat sich der heute 63-Jährige vor allem als Trainer in der 1. und 2. Bundesliga gemacht. Zu seinen wichtigsten Stationen gehörten Schalke 04, Hannover 96, 1. FC Köln und der VfL Bochum. Seit Sommer 2015 ist Neururer Experte bei Sport1.