Pulverfass Krim: Warum werden für diese Halbinsel Kriege geführt?

Krieg in der Ukraine

Explosionen auf einem russischen Militärstützpunkt der Krim, eine völkerrechtswidrige Annexion und zwei kämpferische Präsidenten. Was macht die Halbinsel am Schwarzen Meer so entscheidend?

von Sven Christian Schulz

, 12.08.2022, 05:30 Uhr / Lesedauer: 4 min

„Die Krim ist ukrainisch und wir werden sie niemals aufgeben“, zeigt sich der ukrianische Präsident Wolodymyr Selenskyj kämpferisch. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel 2014 hatte Russland seinen Einfluss massiv ausgebaut. Doch die Kämpfe um die Krim und die damit verbundenen Ansprüche liegen viel länger zurück.

Seit der Eroberung 1783 durch das Russische Reich war die Krim ein Teil Russlands. Das sollte sich erst mit Nikita Chruschtschow ändern. Als erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei war er für mehr als zehn Jahre der mächtigste Mann der Sowjetunion. 1954, nur wenige Monate nachdem er das Amt übernahm, tat er etwas, das Putin ihm bis heute nicht verzeiht. Bei der 300-Jahr-Feier zum Vertrag von Perejaslaw, ein Brüderschaftsbündnis zwischen Russland und der Ukraine, schenkte Chruschtschow der ukrainischen Sowjetrepublik die Krim. Dies sei Zeichen eines „grenzenlosen Vertrauens des russischen Volks in das ukrainische Volk“, hieß es.

Putin sprach bei einer Rede vor dem Duma-Parlament 2014 von einem „historischen Fehler“ und von „Mauscheleien im Hinterzimmer“. Viele Russen fühlen sich noch heute betrogen. Chruschtschow habe ein Juwel verschenkt, werfen sie ihm heute vor.

Damals protestierte Pavel Titov, Parteichef auf der Krim, gegen Chruschtschows Entscheidung, als ihm diese in Moskau mitgeteilt wurde. Es dauerte nur wenige Stunden, ehe er abgesetzt wurde. Anders als Titov habe die Führungsriege in der Abtretung der Krim 1954 kein Problem gesehen, wie der Russland-Experten Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck erklärt. „Denn die sowjetischen Führung war der Auffassung, dass sich die Sowjetunion niemals auflösen würde“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Doch mit ihrem Zerfall 1991 und dem Autonomiestreben realisierten die Russen schlagartig, dass die Krim nun de facto der Ukraine gehört.

Warum Chruschtschow der Ukraine die Krim übertragen hatte, ist für Historikerinnen und Historiker noch heute ein Rätsel. Lag es daran, dass Chruschtschow in Donezk (Donbass) aufgewachsen ist, seine Frau aus der Gegend von Odessa kam und sich beide der Krim verbunden fühlten? Oder wollte der Kreml seine Macht in die Ukraine hinein ausweiten, indem er die Halbinsel nur zum Schein abtritt und so die russische Einflusssphäre vergrößert?

Für Mangott kommt noch ein dritter Grund in Betracht: Es sei verwaltungstechnisch viel sinnvoller gewesen, die Krim von Kiew aus zu verwalten. „Die Verkehrsinfrastruktur, Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln – alles lief über die ukrainische Sowjetrepublik und nicht über das Territorium Russlands.“ Gleichzeitig wurde man die Widerstandsbewegung in der Westukraine gegen die sowjetische Oberhoheit los.

Protokolle über das, was bei der Schenkung 1954 geschah, gibt es nicht. Nur in einer historischen Fachzeitschrift ist von den Beschlüssen die Rede. Bekräftigt wurde die Schenkung aber Jahrzehnte später erneut, weiß Experte Mangott. „Dass die Krim und auch Sewastopol Teil der Ukraine bleiben, haben Moskau und Kiew in einem Nachbarschaftsvertrag 1997 festgehalten.“ Nationalistische Stimmen in Russland, die eine Eingliederung der Krim fordern, habe das laut dem Experten aber nicht verstummen lassen.

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Besondere Lage der Krim

Die Krim gilt aufgrund ihrer Lage am Schwarzen Meer als „Riviera des Ostens“, der russische Schriftsteller Anton Tschechow hat der Krim in seinen Kurzgeschichten ein Denkmal gesetzt und der heutige Urlaubsort Jalta im Süden der Krim wurde weltberühmt, nachdem sich dort kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs Stalin, Roosevelt und Churchill trafen.

Militärstrategisch war die Krim schon immer von enormer Bedeutung. Wer sie kontrolliert, der beherrscht einen Großteil der Schwarzmeerküste. Russland ist von der Krim abhängig, da in Sewastopol die russische Schwarzmeerkriegsflotte stationiert ist. Bis zum Kriegsbeginn hatte Russland der Ukraine für die Nutzung der Hafenanlage sogar eine jährliche Pacht bezahlt, indem es auf einen Teil der ukrainischen Gasschulden verzichtete. Bis 2042 hatte der ukrainische Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch den Pachtvertrag nur wenige Jahre vor der Krim-Annexion verlängert. Sowjetische und später russische Kriegsschiffe liegen bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts in Sewastopol vor Anker. Es ist einer der wenigen ganzjährig eisfreien Häfen Russlands.

Hinzu kommt die wirtschaftliche Bedeutung des Hafens, denn von hier werden viele Waren verschifft und die Küste ist reich an Rohstoffen. „In der exklusiven Wirtschaftszone der Krim befinden sich Öl- und Gasvorkommen, die für Russland und die Ukraine gleichermaßen von Bedeutung sind“, sagt Mangott dem RND. „Wer die Krim besitzt, kann auch Ansprüche auf diese Vorkommen stellen.“

Heimat der Krimtataren

Für Ukrainer gehört die Krim historisch zur Ukraine. Seit Jahrhunderten bewohnen die Krimtataren die Halbinsel. Zwischenzeitlich versuchten sie, eine Republik zu gründen. Stalin deportierte 1944 Krimtataren nach Asien, erst 1989 durften sie zurück und stellen sich aus dieser historischen Erfahrung grundsätzlich gegen jeden erdenklichen russischen Einfluss auf der Krim. „Kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die Mehrheit der Krim-Bewohner für die Zugehörigkeit zur Ukraine ausgesprochen“, sagt Experte Mangott mit Blick auf das Referendum 1991. In den 90er-Jahren habe es dann politische Bewegungen gegeben, die auf eine Rückkehr zu Russland drangen. Sie seien aber in der Minderheit gewesen. „Doch die schlechte wirtschaftliche Behandlung der Krim durch die ukrainischen Regierungen hat die Unzufriedenheit der Menschen verstärkt, gerade unter den ethnischen Russen.“ Sie machten die Mehrheit der Krim-Bevölkerung aus.

Auch Putin liebt die Krim. Mehrere Milliardäre haben ihm eine Luxusvilla am Meer geschenkt: die alte sowjetische Staatsresidenz „Glizinija“. Schon Bundeskanzler Willy Brandt war dort zu Gast, um den sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew im September 1971 zu treffen.

Nach der Annexion haben sich viele der Krim-Einwohner einen russischen Pass geholt. Das bringt viele Vorteile, wie zum Beispiel eine kostenlose Krankenversicherung. Heute ist die Krim ein beliebtes Urlaubsziel – vor allem der Russen. Die russische Botschaft in Deutschland wirbt zwar auch mit „Geheimtipps“ für den Krim-Urlaub. Kleine Lokale statt große Restaurantketten, frischer Fisch und „Krim-Wein“, wird eine Reise auf die Halbinsel angepriesen. Doch die nach 2014 verhängten Sanktionen haben viele Europäer schon vor Jahren abgeschreckt. „Wegen der Sanktionen werden weder in Hotels noch in Restaurants oder Shops Kreditkarten akzeptiert“, räumt auch die russische Botschaft ein.

Russen reisen aber häufig auf die Krim, sie zählte zuletzt zu den beliebtesten Urlaubsregionen. „Die russische Regierung hat seit 2014 immer wieder Werbung dafür gemacht, dass die Bevölkerung ihren Urlaub aus patriotischen Gründen auf der Krim verbringen soll“, weiß Mangott. Der Tourismus aus Russland sei in den letzten Jahren immer weiter gewachsen.

Doch in diesem Jahr meiden selbst die Russen das beliebte Urlaubsziel. Die Hotelbuchungen seien in diesem Sommer im Vergleich zum Vorjahr um etwa 30 Prozent zurückgegangen, so die russische Nachrichtenagentur RBC. Hotels seien nur noch zur Hälfte belegt. Der Flughafen der Krim in Simferopol ist wegen eines Flugverbots für die zivile Luftfahrt wie ausgestorben. Wer auf die Halbinsel will, muss nun mit Zug, Bus oder Auto anreisen. Eine 19 Kilometer lange Brücke hatte der Kreml extra bauen lassen, die das ukrainische Festland umgeht und für einen sicheren Zugang zur Krim sorgen soll.

Das Verteidigungsministerium in Kiew warnte heute Russen vor einer Reise auf die Krim ab: „Unseren geschätzten russischen Gästen raten wir von einem Besuch der ukrainischen Krim ab, es sei denn, sie möchten einen unangenehmen heißen Sommer verbringen“, heißt es darin nicht ohne Schadenfreude.

Ob Selenskyj die Krim zurückerobern wird, ist ungewiss. „Russland hatte viel Zeit, die Krim militärisch aufzurüsten, und hat sie zu einer regelrechten Festung ausgebaut“, beobachtet der Russland-Experte Mangott. Russland werde alles daransetzen, einen Verlust der Krim zu verhindern, glaubt er. Würde er die Krim verlieren, und auch das andere seit Februar eroberte Gebiet, wäre das ein Desaster. Der Verlust der Krim würde Putins Position als Präsident gefährden. „Dass Russland eine Rückeroberung der Krim zulassen wird, halte ich für undenkbar.“

RND