Kriegsverbrechen mit System: Das Geheimnis der russischen Grausamkeit
Krieg in der Ukraine
Vergewaltigungen, Bomben auf Kliniken: Wenn der Westen denkt, grausamer geht es nicht, liefern Putins Soldaten noch mehr – und schneiden Männern bei lebendigem Leib die Hoden ab. Wie ist das zu erklären?
Immer häufiger entstehen in diesen Tagen und Wochen in der Ukraine kleine, aber authentische Horrorvideos. Mal sieht man, wie der abgetrennte Kopf eines Menschen an einem Zaun aufgespießt wird. Mal blickt man auf die Armstümpfe eines Mannes, dem gerade beide Hände abgeschnitten wurden. Zwischendurch zeigen sich grinsend Soldaten der russischen Armee. Mit selbst gefertigten gruseligen Trophäen posieren sie stolz vor ihrem digitalen Publikum.
Auf russischen Telegram-Kanälen werden Sequenzen dieser Art eifrig hin- und hergereicht. Westliche soziale Netzwerke dagegen ziehen sie sofort aus dem Verkehr und sperren die beteiligten Accounts.
Zu brutal für Twitter und die Tagesschau
Am vorigen Wochenende gab es wieder einen solchen Fall. Ein Video zeigt, wie zwei russischsprachige Männer in Tarnanzügen einem gefesselten und geknebelten ukrainischen Gefangenen bei lebendigem Leib die Hoden abtrennen. Im Hintergrund parkt ein russisches Armeefahrzeug mit einem großen weißen „Z“ auf der Motorhaube. Der Täter trägt einen dunklen Hut mit breiter Krempe und blaue Latexhandschuhe, er benutzt ein Teppichmesser. In dem Video ertönt eine an ukrainische Mütter gerichtete Botschaft, ihre Söhne lieber nicht in den Krieg gegen Russland zu schicken.
Twitter löschte das Video – und löste damit eine Debatte ganz eigener Art aus. Die liberale ukrainische Parlamentsabgeordnete Inna Sovsun etwa protestierte: „Twitter entschied, dass es zu grausam war. Aber genau diese Dinge passieren. Daran ändert auch das Löschen des Videos nichts.“
Tatsächlich hat die Brutalität der Russen bei ihrem Vorgehen in der Ukraine ein Ausmaß angenommen, das in den Mainstreammedien des Westens schon aus Gründen des Jugendschutzes nicht mehr konkret dargestellt werden darf: Es wäre, ob auf Twitter oder in der Tagesschau, allzu verstörend.
Kaum zu ertragende Bilder entstehen in der Ukraine nicht nur vereinzelt in einigen düsteren Folterkammern der Russen. Sie entstehen rund um die Uhr, landauf, landab, am helllichten Tag, auch bei kleineren Vorkommnissen, die es nicht in westliche Nachrichten schaffen.
In Mykolajiw zum Beispiel gefiel es den Russen, am 29. Juli 2022 ein Wohngebiet zu bombardieren. Um möglichst viele Menschen töten und verstümmeln zu können, wartete man, bis Straßen und Plätze sich füllten.
Das Blutbad begann um 9.45 Uhr und riss allein an einer Bushaltestelle, in deren Nähe gerade Brot verkauft wurde, ein Dutzend Menschen von den Beinen. Fünf waren sofort tot, sieben weitere wurden, teils mit aus den Wunden ragenden Knochen, in nahe Kliniken gefahren, mit ungewissen Überlebenschancen.
Moskaus „double tap“ tötet auch die Helfer
Schaudernd stellen Analysten und Analystinnen bei der Nato fest, dass die russischen Aktivitäten kaum noch zu erklären sind, wenn man klassische militärische Maßstäbe anlegt. Denn immer offener agiert die russische Armee nach dem Muster einer Terrorbande.
Den Gedanken an schieren Terror als Kriegsziel zuzulassen, kostet Überwindung, kann aber hilfreich sein. Wer sich auf die Logik des Terrors einlässt, findet plötzlich Erklärungen auch für bislang Unerklärliches, vom widersprüchlichen Hin und Her russischer Truppen auf dem Schlachtfeld bis hin zur Bombardierung einer ukrainischen Geburtsklinik am 9. März 2022.
Im Zentrum steht für Wladimir Putin nicht dieses oder jenes militärische Ziel, sondern der generelle Vernichtungswille gegenüber dem ukrainischen Volk. Der genaue Ablauf ist ihm nicht so wichtig, entscheidend ist, dass die Ukrainer am Ende entweder aus der Ukraine verschwinden – oder sterben.
Von Kollateralschäden wie im Fall anderer Kriege und anderer Mächte kann nicht die Rede sein. Zwar kommt es immer wieder auch vor, dass die Russen militärische Ziele in der Ukraine angreifen. Nach einem Bericht des „Kyiv Independent“ stehen jedoch den bislang rund 300 russischen Attacken auf militärische Ziele in der Ukraine sage und schreibe 17.300 russische Angriffe auf zivile Ziele gegenüber. In vielen Orten sind 50 Prozent aller Wohngebäude zerstört. Nimmt man Putins Vernichtungswillen zum Maßstab, erscheint seine im Westen oft belächelte Behauptung, alles verlaufe nach Plan, nicht mehr völlig absurd.
Oft folgen den russischen Bombenangriffen auf Wohngebiete noch Attacken auf Krankenhäuser. So war es jetzt auch in Mykolajiw. Nach dem Splitterbombenbeschuss vom 29. Juli erzitterte am 1. August das Unfallkrankenhaus unter russischem Beschuss: Zerstört wurden ein Lager für Medikamente und Rettungsfahrzeuge.
Ebenso wie zuvor in Syrien greifen die Russen in der Ukraine zu einer mörderischen Methode namens „double tap“. Dabei wird in einer ersten Angriffswelle etwa ein Einkaufszentrum in Flammen gesetzt. In einem gewissen Abstand folgt dann eine zweite Bombardierung, um auch die „first responders“ zu töten: Sanitäter, Notärzte, Feuerwehrleute, Polizisten, freiwillige Helferinnen und Helfer.
Durch Grausamkeit zum Glück?
Die CNN-Journalistin Clarissa Ward dokumentierte dieses Muster der Russen bereits im April 2022 in einer Reportage aus Charkiw. Am 20. Juli 2022 legten Menschenrechtler und ‑rechtlerinnen des im Exil tätigen Syria Justice and Accountability Centers die weltweit bislang detaillierteste Studie zu Russlands „double tap“-Attacken auf humanitäre Helfende in Syrien vor. Titel: „When the planes return“. 58 menschenverachtende Attacken dieser Art sind detailliert dokumentiert.
Während in jedem demokratischen Staat der Erde Kriegsverbrechen zu Enthüllungen und Skandalen führen würden, gelten in Russland andere Gesetze. Rechtsbrüche werden, wenn sie jene treffen, die man als gering empfindet, Ukrainer und Ukrainerinnen etwa, sogar offiziell gefordert.
Die russische Botschaft in London zum Beispiel verlangte allen Ernstes in einem Tweet, Russland solle die ukrainischen Kriegsgefangenen aus dem Azow-Stahlwerk nicht erschießen, sondern erhängen: „Sie verdienen einen demütigenden Tod.“
Twitter ließ den Tweet stehen, obwohl die diplomatische Vertretung Russlands damit, wie das Unternehmen erklärte, „gegen die Twitter-Regeln zu Hass schürendem Verhalten verstößt“. Twitter habe jedoch beschlossen, „dass möglicherweise ein öffentliches Interesse daran besteht, diesen Tweet zugänglich zu lassen“.
Woher kommt dieser Wunsch nach Grausamkeit? Lässt sich alles immer auf Putin zurückführen – oder walten an dieser Stelle in Russland breitere, tiefer reichende soziokulturelle Kräfte?
Der nach Deutschland geflohene russische Schriftsteller Viktor Jerofejew schrieb dieser Tage in einem Aufsatz, Putin habe „das Geheimnis vom Glück des Volkes geknackt“. Putin habe verstanden, dass weder Komfort, noch Lebensstandard oder Freundschaft mit dem Westen für das russische Volk an erster Stelle stehen. Das russische Volk habe andere Maßstäbe für Glück. „Russisches Glück – das bedeutet Dominieren“, schreibt Jerofejew. „Das russische Glück ist die Verletzung jeder Norm.“ Die Thesen von Jerofejew sind provozierend. Doch das, was gegenwärtig in der Ukraine geschieht, widerspricht ihnen nicht.
Der Artikel "Kriegsverbrechen mit System: Das Geheimnis der russischen Grausamkeit" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.