Austausch, Gefängnis oder Todesstrafe: Was droht den gefangenen Azovstal-Soldaten?
Krieg gegen die Ukraine
Wochenlang haben ukrainische Kämpfer die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol verteidigt. Gut 260 Soldaten haben sich nun ergeben. Was passiert nun mit ihnen?
Nach der Evakuierung von gut 260 ukrainischen Soldaten aus dem Azovstal-Stahlwerk in Mariupol stellt sich nun die große Frage: Wie geht es jetzt mit den Kämpfern weiter? Denn: Die Soldaten, die ihre Bastion in der Nacht zum Dienstag verließen, begaben sich im Rahmen eines Abkommens unmittelbar in russische Gefangenschaft. Die stellvertretende ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar sagte, es werde um einen Austausch der Kämpfer mit russischen Kriegsgefangenen verhandelt. Russlands Militär ließ einen solchen Schritt zunächst offen.
„Die Ukraine braucht die ukrainischen Helden lebend“, machte Präsident Wolodymyr Selenskyj nach der Gefangennahme der Azovstal-Kämpfer deutlich. Auch der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, betont in einem Videointerview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Für uns ist wichtig, dass wir diese Menschen retten können und dass diese Menschen in die Ukraine zurückkehren dürfen. Das ist das Gebot der Stunde.“
Statt Austausch: Droht Azovstal-Kämpfern in Russland der Prozess?
Das russische Parlament wollte staatlichen Medienberichten zufolge am Mittwoch über eine Resolution gegen einen Austausch evakuierter Azovstal-Soldaten beraten. Der Präsident des russischen Unterhauses, Wjatscheslaw Wolodin, warf den ukrainischen Kämpfern vor, sie seien „Nazi-Verbrecher“ und „Kriegsverbrecher“. Sie müssten zur Rechenschaft gezogen werden, forderte er. Statuiert Russland an den Mariupol-Kämpfern nun ein Exempel?

Dieses vom Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums und über AP zur Verfügung gestellte Videostandbild zeigt nach Angaben des Pressedienstes des russischen Verteidigungsministeriums ukrainische Soldaten, die einen verwundeten Kameraden tragen, während sie aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal evakuiert werden. © picture alliance/dpa/Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums
Das scheint laut dem österreichischen Politologen und Russland-Experten an der Universität Innsbruck, Gerhard Mangott, nicht unwahrscheinlich: „In Russland gelten diese Kämpfer als Nazis, und gemäß der russischen Propaganda geht es bei der ‚Spezialoperation‘ in der Ukraine um eine Entnazifizierung“, betont er gegenüber dem RND.
Für einen Teil der Kämpfer könnte zwar Hoffnung auf einen Austausch bestehen, weniger aber für die Befehlshaber. Denn speziell die Führung des Asow-Bataillons stehe „als Sinnbild für nationalsozialistische und extrem rechte Tendenzen“, so Mangott. Diesen den Prozess zu machen, „könnte in Russland propagandistisch gut ausgeschlachtet werden“.
„Alles andere wäre ein Vertrauensverlust schlechthin“
Bereits die Gefangennahme der 264 Soldaten verkaufte der Kreml als Triumph. Moskau sprach von einer Massenkapitulation und veröffentlichte später ein Video, das die Gefangennahme der Ukrainer, medizinische Behandlung sowie den Abtransport von Verletzten zeigen soll. Gut 50 der Soldaten sollen schwer verwundet sein. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, sagte, dass alle Verletzten ins Krankenhaus von Nowoasowsk gebracht worden seien.
„Wir hoffen sehr, dass die russische Führung ihre Versprechen einhält und dass diese Menschen so schnell wie möglich medizinische Versorgung bekommen“, so der ukrainische Botschafter Melnyk zum RND. Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte am Montag eine Vereinbarung bekannt gegeben, wonach verwundete ukrainische Kämpfer zur Behandlung in eine Stadt unter Kontrolle prorussischer Separatisten gebracht werden könnten.
Melnyks Hoffnung gelte aber auch einem Gefangenenaustausch. „Wir hoffen, dass all die Drohungen, die wir seit gestern gehört haben, sich nicht bewahrheiten werden. Alles andere wäre ein Vertrauensverlust schlechthin.“
Russischer Unterhändler fordert Todesstrafe für Azovstal-Kämpfer
Der ukrainische Botschafter spielt damit nicht nur auf die Aussagen vom Chef des russischen Parlaments an. Der russische Unterhändler Leonid Slutski, der für Russland mit der Ukraine verhandelt, forderte gar die Todesstrafe für die Azovstal-Kämpfer. „Sie verdienen es nicht zu leben angesichts der monströsen Menschenrechtsverbrechen, die sie begangen haben und die sie weiterhin an unseren Gefangenen begehen.“
Die rechtliche Voraussetzung dafür bestünde, so Russland-Experte Mangott. „In Russland gibt es nur ein Moratorium auf die Todesstrafe, aber sie ist nicht abgeschafft, sondern steht noch immer in der Verfassung.“ Dennoch halte er es für „sehr unwahrscheinlich“, dass diese auch angewendet werde. Seine Vermutung: „Die Kämpfer müssen sich auf lange Haftstrafen einstellen.“
Ein Schicksal, das noch deutlich mehr als den gut 260 ukrainischen Kämpfern drohen könnte. Denn: Nach russischen Angaben sollen sich seit Wochenbeginn bereits 959 Soldaten aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal ergeben haben. Unter ihnen seien 80 Verletzte, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Mittwoch laut Agentur Interfax mit. Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine Bestätigung für diese Zahl.
Mariupol: Symbol für den ukrainischen Widerstand
Derweil haben die russischen Truppen nach Angaben des ukrainischen Militärs am Dienstag die Blockade des Azovstal-Stahlwerks in Mariupol aufrechterhalten. Der ukrainische Generalstab erklärte in seinem abendlichen Lagebild, das bei Facebook veröffentlicht wurde, dass „der Feind in Mariupol seine Hauptanstrengungen darauf konzentrierte, unsere Einheiten im Bereich des Azovstal-Werks zu blockieren“.

Blick auf das Stahlwerk Azovstal in Mariupol. © picture alliance/dpa/AP
Russland hat Mariupol seit knapp drei Monaten belagert. Das russische Bombardement hat dort nach ukrainischen Angaben mehr als 20.000 Zivilisten getötet. Unter anderem starteten russische Truppen Luftangriffe auf eine Entbindungsklinik und ein Theater, in dem Zivilisten Schutz gesucht hatten. Mariupol gilt als Symbol des Widerstands und des Leids.
„Die Ukrainer haben einen bewundernswerten Widerstandswillen“
Für Ex-Nato-General Hans-Lothar Domröse deuten die jüngsten Entwicklungen auf einen Fall der lange schwer umkämpften Hafenstadt hin. Das Stahlwerk in Mariupol sei der letzte Haltepunkt für die Ukraine in der Stadt gewesen. „De facto ist es eine Aufgabe, um Blutvergießen zu vermeiden“, sagt er im Gespräch mit dem RND. Seiner Einschätzung nach würden Teile der russischen Truppen nun in Richtung Odessa weiterziehen, „um an der Südküste weitere Städte zu erobern“.
Ein Teil der Kräfte müsse aber in der Stadt bleiben. Der Grund: die Sicherung vor ukrainischen Widerstandskämpfern. „Wir sehen bereits in anderen besetzten Städten, dass dort Guerillakriege stattfinden.“ Russland müsse davon ausgehen, dass Kämpfer in U-Bahnschächten und Kellern aus dem Hinterhalt angreifen, so Domröse. „Das ist die Macht des kleinen Mannes gegenüber einer Weltmacht.“ Sie könnten so Nadelstiche setzen und maximal über diesen Weg versuchen, Russlands Kampfmoral zerstören. Domröse gibt sich dennoch zuversichtlich: „Die Ukrainer haben einen bewundernswerten Widerstandswillen.“
RND
Der Artikel "Austausch, Gefängnis oder Todesstrafe: Was droht den gefangenen Azovstal-Soldaten?" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.