Zahlreiche Reisende fahren mit einer Regionalbahn. Das 9-Euro-Ticket hatte für einen wahren Ansturm auf den ÖPNV gesorgt.

Zahlreiche Reisende fahren mit einer Regionalbahn. Das 9-Euro-Ticket hatte für einen wahren Ansturm auf den ÖPNV gesorgt. © picture alliance/dpa

Kostenloser ÖPNV: Was Deutschland von Luxemburg lernen kann

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Viele Deutsche steigen wegen des 9-Euro-Tickets auf Bus und Bahn um. In Luxemburg muss dafür gar nichts mehr gezahlt werden. Dort weiß man: „Das Ticket macht nur Sinn, wenn man auch eine Vision hat.“

von Miriam Keilbach

08.06.2022, 05:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

„Wir bitten Sie, nicht mehr zuzusteigen“, dröhnt aus den Lautsprechern des Regionalzugs von Koblenz nach Köln. Es ist der zweite Tag, an dem das 9-Euro-Ticket gilt, doch das sonnige Wetter will genutzt werden, für ein langes Wochenende über Pfingsten im Unesco Welterbe Rheintal. Tausende Deutsche machten sich auf den Weg, auch in anderen touristischen Regionen, von Sylt und Rügen bis in die Alpen und den Schwarzwald.

Günstige oder gar kostenfreie Tickets in öffentlichen Verkehrsmitteln – ist es so einfach, mehr Menschen aus den Autos und auf die Schienen zu bekommen? Nein, sagt einer, der es wissen muss. „Die Grundidee mit dem 9-Euro-Ticket ist okay“, sagt François Bausch, Verkehrsminister in Luxemburg dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Aber das macht nur Sinn, wenn man auch eine Vision hat. Nur den Nahverkehr drei Monate günstig zu machen ohne in die Qualität und den Ausbau zu investieren, wird nur zu Frustration führen.“

Luxemburgs Verkehrsminister: Deutschland fehlt die Vision, wie Mobilität zukünftig aussieht

Luxemburg hat am 1. März 2020 den kostenlosen öffentlichen Nah- und Fernverkehr eingeführt – im ganzen Land und für alle, auch für Touristinnen und Touristen. Seither baut das Großherzogtum die Infrastruktur massiv aus. 567 Euro pro Einwohnerin und Einwohner investiert Luxemburg – im Gegensatz zu Deutschland mit 88 Euro pro Kopf.

Neue Züge wurden bestellt und bald soll die Kapazität um nahezu 50 Prozent steigen, auf der Hauptachse zwischen französischer Grenze und Luxemburg-Stadt soll sie gar verdoppelt werden. „Ich sage immer, der kostenlose ÖPNV ist die Kirsche auf dem Sahnekuchen“, so Bausch. Aber auch das gehört dazu: „Der Sahnekuchen muss auch da sein“, wie der luxemburgische Eisenbahnchef Marc Wengler vor einigen Tagen der „Zeit“ sagte. Heißt: Bevor über kostenlose Modelle gesprochen wird, muss die notwendige Infrastruktur da sein – oder zumindest ein Plan dafür.

„Der kostenlose ÖPNV war nur eine Komponente unseres Plans“, sagt Bausch dem RND. „So sollte vor allem Aufmerksamkeit für den ÖPNV erzeugt werden.“ Schon seit einigen Jahren baut Luxemburg aus, Bahnhöfe werden gebaut, neue Bus-Stopps eingeführt, neue Verkehrswege geschaffen und durch die Hauptstadt fährt inzwischen eine Stadtbahn, die aktuell noch verlängert wird. „Wir haben einen nationalen Mobilitätsplan. Bis 2035 soll jedes Dorf besser angebunden sein. Es geht darum, Menschen zu bewegen, nicht Fahrzeuge – und der ländliche Raum hat andere Bedürfnisse als die Großstadt“, so der Grünen-Politiker.

Tipp aus Luxemburg: Nahverkehr günstig, Fernverkehr nicht zwangsläufig

Wie auch in Deutschland das 9-Euro-Ticket sollte die Gratisnutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Luxemburg vor allem ein Werbetool sein. „Wir zeigen den Leuten jetzt, dass wir ausbauen. Wir zeigen ihnen Perspektiven auf“, sagt Bausch. Doch er sieht, wie viele Kritikerinnen und Kritiker in Deutschland auch, ein Problem: „Das Ticket wurde einfach eingeführt, ohne eine Strategie dahinter.“ Es ist dieser Punkt, für den Politik und Bahn seit Wochen in der Kritik stehen: Das 9-Euro-Ticket kam, ohne die Infrastruktur im Nahverkehr anzupassen.

Weder wurden ländliche Gegenden erschlossen und es wurden tatsächliche Alternativen zum Auto geschaffen noch wurden Takte erhöht, Züge erweitert, mehr Kapazitäten geschaffen. Es gibt nicht einmal Pläne dafür, während Luxemburg die ersten Schritte 2017 einleitete. Die Deutsche Bahn kann im gesamten Aktionszeitraum Juni, Juli und August nur 50 Züge zusätzlich einsetzen, was deutschlandweit 250 zusätzliche Verbindungen bedeutet.

Ursprünglich sollte das 9-Euro-Ticket vor allem Pendlerinnen und Pendler finanziell entlasten – so sollten steigende Energie- und Lebenshaltungskosten ausgeglichen werden. Als dauerhaftes Sparmodell war das 9-Euro-Ticket nicht gedacht – und es gibt auch keine Überlegung dazu, wie ÖPNV ab September eine Alternative sein kann. „Günstige Tickets im Nahverkehr sind wichtig“, sagt Bausch.

Deshalb müsse Deutschland aber keine ICE-Verbindungen kostenfrei machen, vielmehr gehe es darum, sich vor allem innerstädtische Mobilität anzusehen. „Wir haben in der Vergangenheit zu sehr auf Verbindungen zwischen den Städten geachtet und nicht darauf, wie sich die Leute in der Stadt bewegen. Da kann und muss man differenziert vorgehen.“

Tallinn lässt Einheimische kostenfrei Bus fahren: Menschen ziehen in die Stadt

In der estnischen Hauptstadt Tallinn ist man den Weg zur Gratisnutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln 2013 gegangen – ohne einen Ausbau der Kapazitäten. Aber Tallinn hatte schon vorab investiert, viele Menschen, darunter Kinder, Seniorinnen und Senioren sowie uniformierte Staatskräfte von Polizei oder Militär fuhren schon zuvor kostenfrei, das Monatsticket kostete für alle anderen 18 Euro.

Innerhalb des ersten Jahres nach Einführung hat sich die Anzahl der Fahrgäste um 6,5 Prozent erhöht und dort eingependelt. Wenngleich nicht unbedingt viel mehr Menschen den ÖPNV nutzen und nur vier Prozent vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel umgestiegen sind, hat sich die Anzahl der Fahrten jener Menschen aber deutlich erhöht: von rund 400.000 jährlich vor Einführung auf mehr als 2,8 Millionen im Jahr 2019, sagt Tiit Laiksoo vom Transport-Ministerium in Tallinn dem RND.

12 Millionen Euro habe seine Stadt im ersten Jahr investiert, das Ergebnis: Die Zufriedenheit der Einwohnerinnen und Einwohner von Tallinn mit dem ÖPNV in ihrer Stadt verdoppelte es sich zwischen 2012 und 2019 beinahe und es zogen so viele Menschen nach Tallinn, dass die Stadt alleine dadurch 30 Millionen Euro Steuereinnahmen zusätzlich hat – pro Jahr. Ob das bezüglich Wohnraummangel in Innenstädten ein Modell für Deutschland wäre, sei dahingestellt.

Luxemburg beginnt mit Auswertung von Gratis-ÖPNV

In Luxemburg ist man sich ob der bisherigen Auswertungen noch nicht sicher, welchen Beitrag der Preisfaktor geleistet hat – auch, weil nur wenige Tage nach der Einführung des kostenlosen ÖPNV der erste coronabedingte Lockdown stattfand. „Die Fahrgastzahlen sind bei der Bahn im April 2022 noch immer 15 Prozent niedriger als im Februar 2020, in der neuen Straßenbahn stiegen sie jedoch Ende 2020 deutlich an, als die Linie verlängert wurde“, heißt es aus dem Verkehrsministerium.

Aktuell wird eine Art Monitoring errichtet, die Bewegungsdaten aller Fahrgäste und Individualreisenden sollen erfasst werden. In der Stadtbahn ist die automatische Zählung aktiviert, deshalb weiß man: 18.000 tägliche Fahrgäste gab es in Luxemburg-Stadt vor 2020, in Spitzenzeiten sind es inzwischen 75.000. 60 Prozent der Busse haben das Auswertungssystem bereits, auch die Züge sollen nach und nach ausgestattet werden. Allerdings zeigte sich bisher auch: Buslinien, die nach einer Bedarfsanalyse neu ausgerichtet wurden, werden stärker frequentiert, während die unveränderten Buslinien eher rückläufige Zahlen vorweisen.

Ob das 9-Euro-Ticket unter diesen Voraussetzungen ein Erfolg werden kann, ob Menschen dadurch vom Zugfahren überzeugt werden können? Sie teilen sich volle Abteile mit Ausflüglern und jenen, die im Urlaub quer durchs Land fahren. An Tagen wie rund um Pfingsten, an denen gutes Wetter ist, wird es eng – überwiegend am Wochenende, aber auch in den Ferien, wenn viele glauben, das 9-Euro-Ticket bestmöglich nutzen zu müssen, weil der ÖPNV danach wieder teuer sein wird. Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn sagte an Pfingsten, das Chaos sei vorhersehbar gewesen und Folge eines politischen Angebots, ohne dafür über die nötigen Kapazitäten im Bahnverkehr zu verfügen.

„Überall in Deutschland waren die Bahnsteige und die Züge voll, in mehreren Fällen mussten überfüllte Züge geräumt werden – aber zum Glück keine Bahnhöfe“, sagt der Vize-Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats DB Regio, Ralf Damde, dem RND. Er berichtet von täglich 400 überfüllten Zügen und rund 700 Meldungen von Überlastungen oder Störungen pro Tag. Was auf den ersten Blick viel klingt, relativiert sich im Kontext: Es gab bei 22.000 Verbindungen in 1100 Fällen Probleme.

Luxemburgs Verkehrsminister: „9-Euro-Ticket ist eine Chance“

Bausch glaubt, dass noch nicht alles verloren ist, für das 9-Euro-Ticket und die Bahn in Deutschland. Man müsse die Chance nutzen, über Mobilität zu sprechen, sie neu zu denken – unter Einbeziehung sozialer, ökologischer und ökonomischer Aspekte und mit Rücksicht auf alle Verkehrsteilnehmende von Autofahrenden über Fußgängerinnen und Fußgänger bis hin zu Nutzerinnen und Nutzer des ÖPNV. „Es geht darum, Prioritäten zu setzen.“ Wie auch in Luxemburg vor einigen Jahren noch sei die deutsche Verkehrspolitik auf das Auto ausgelegt. Nun müsse aus den Köpfen raus, dass die Straße vor allem oder ausschließlich für Autos da sei. „Man kann nicht mehr nur ein Verkehrsmittel fördern, man muss das gesamte System, die Mobilitätskette, effizienter machen“, sagt Rausch.

Wer nicht mehr gezielt ein Verkehrsmittel fördere, habe auch Geld, in den gesamten Ausbau zu investieren. In Luxemburg waren die Kosten ohnehin gering, weil schon zuvor fast 92 Prozent des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs über Steuern finanziert wurde – der Staat zahlt nur 41 Millionen Euro mehr pro Jahr. In Deutschland hingegen wird die Bahn zu mehr als 50 Prozent durch Ticketkosten finanziert. Auch hier müsse ein Umdenken stattfinden, so der luxemburgische Politiker. „Wenn der ÖPNV über Steuern finanziert wird, wird es gerechter“, sagt er. Reiche würden mehr Steuern entrichten und sich somit prozentual mehr am ÖPNV beteiligen als Geringverdiener – während die Ticketpreise bislang meistens keinen Unterschied zwischen arm und reich machen.

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