
Echt jetzt? Sind das dieselben Menschen, die sich bis zur Wahl bekriegt haben? Die einander Stümperei, Dilettantismus und was immer ihnen sonst noch an Unverschämtheiten in den Sinn kam, vorgeworfen haben? Und jetzt? Beste Freunde?
Schulterklopfen, staatstragende Reden, Harmonie. Natürlich fehlt auch der Verweis auf „harte Verhandlungen“ nicht. Können Sie sich erinnern, dass in irgendeiner vergleichbaren Situation nicht von „harten Verhandlungen“ die Rede war? Eben.
Es ist beachtlich, wie rasch die Polit-Profis zueinander gefunden haben. In „normalen“ Zeiten hätte das nie geklappt. Die Zeiten sind aber nicht normal. Vier Faktoren haben für Tempo gesorgt.
Geld überbrückt tiefe Gräben
1. Entscheidend war das 500-Milliarden-Paket für die Infrastruktur. Das verschaffte SPD und CDU/CSU genau das, was der Ampel verweigert worden war. Eben jenem Bald-Kanzler Merz, der nur Tage brauchte, um alle Eide zur Schuldenbremse zu brechen. Die Milliarden gaben den Koalitionären Spielraum, gute Gaben an alle zu verteilen und allzu schmerzhafte Einschnitte zu vermeiden. Wenn alle gewinnen, kann man sich schnell einigen.
Ob die Extra-Milliarden tatsächlich nur für „zusätzliche“ Projekte ausgegeben werden, wird sich zeigen. Es steht zu befürchten, dass mit dem Geld auch Löcher im Haushalt gestopft und Wahl-Geschenke verteilt werden. Das ist laut Bundestagsbeschluss zwar verboten, aber das „flexible“ Auslegen von Beschlüssen gehört ja zur Basis-Qualifikation jedes Politikers.
Wie „Flexibilität“ geht, zeigte sich schon bei der Präsentation des Koalitionsvertrages. Merz, Klingbeil, Esken und Söder versprachen, sparsam zu wirtschaften und bei sich selbst anzufangen. So werde man in der Bundesverwaltung bis 2029 acht Prozent Personal einsparen.
Toll, oder? Von 2015 bis 2024 wuchs die Zahl der Stellen in der Bundesverwaltung um 20 Prozent. Allein in den Bundesministerien, im Kanzleramt und beim Bundespräsidenten stieg die Zahl der Stellen in dieser Zeit um 30 Prozent. Jetzt sollen in vier Jahren acht Prozent wegfallen. Acht Prozent? Ernsthafter Sparwille sieht anders aus.
Die Wirtschaftskrise und ein Chaos-Präsident
2. Die Wirtschaft steckt in der Krise. Das war allen klar, als ihre Gespräche begannen. Dann zündete Donald Trump seine Zoll-Bombe. Dass er seine härtesten Drohungen teils wieder auf Eis legte, macht es nur graduell besser, denn: Allein seine Unkalkulierbarkeit ist Gift. Was er morgens verkündet, nimmt er abends zurück. Wie soll ein Unternehmer da planen?
Wann platzt den Amerikanern der Kragen, wann jagen sie diesen ungehobelten Kerl aus dem Weißen Haus? Einen Mann, der wie ein Despot und ein trotziges Kind zugleich agiert. Der Länder als „böse“ tituliert und Majestätsbeleidigung schreit, wenn sie sich gegen seine Attacken wehren.
Der absurde Lügen verbreitet. In Europa würden Autos aus den USA getestet, indem man aus sechs Metern Höhe eine Bowling-Kugel auf das Auto fallen lasse. Gebe es Dellen, werde es nicht zugelassen. Oder: In Deutschland gehe jede Woche ein neues Kohlekraftwerk ans Netz.
Trumps abstruser Blödsinn wäre in einer Satire-Show witzig, aber der meint das ernst. Da steht ein offensichtlich durchgeknallter Mann an der Spitze der USA, der keinen Widerspruch duldet, beratungsresistent ist, Kreditkarten mit seinem Konterfei verteilt und nur eines im Sinn hat: sich die eigenen Taschen zu füllen.
Bei so einem US-Präsidenten kann sich unser Land keinen einzigen Tag ohne verlässliche Regierung leisten. Der US-Zöllner hat Union und SPD zur Eile getrieben.
Die beiden Kriege vor der Haustür
3. Die beiden Kriege vor unserer Haustür. Putin, der russische Möchtegern-Zar mit imperialistischen Phantasien, der einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Israels Netanjahu, der seinen Vernichtungs-Feldzug im Gaza-Streifen fortsetzt, dabei die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stumpf ignoriert.
Putin und Netanjahu nutzen das von Trump verbreitete Chaos, um in seinem Schatten fast unbemerkt agieren zu können. Jeden Moment kann einer dieser beiden Kriegsherde eskalieren. Auch das dürfte die Verhandler zur Eile getrieben haben.
Die AfD im Nacken
4. Mitten in die Gespräche platzte die Nachricht, dass in den Umfragen die AfD bundesweit erstmals vor der Union liegt. Ein Alptraum für ein Land, in dem eine rechtsextremistische Diktatur einen Weltkrieg auslöste.
Spätestens jetzt muss jedem klar sein: Da zieht von Rechts ein fürchterlicher Orkan auf, der unsere freiheitliche Gesellschaft wegfegen kann. Um das zu verhindern, muss die neue Regierung superschnell beweisen, dass sie die Probleme des Landes erkannt hat und wirksam gegensteuert. Gelingt das nicht, dann gute Nacht, geliebtes freiheitliches, von Wohlstand gesegnetes Deutschland.
Auch diese Erkenntnis hat die Einigung gepusht. Der Koalitionsvertrag hat 144 Seiten voller Versprechungen („wir werden“) und Wünschen („wir wollen“). Was daraus wird? Offen. Der Westfale sagt: Vom Versprechen ist noch keiner arm geworden.
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