Knickern: Die Kugeln müssen in die Kuhle
Alte Kinderspiele
Kennen Sie noch das Knickern? Die kleinen Kugeln, die in eine Kuhle gerollt werden müssen? Und wer mit der letzten in das Loch trifft, der bekommt den ganzen Pott. Helmut Spiegel lässt die Erinnerung an alte Kindertage wieder aufleben, in der die Kugeln noch rollten. Draußen auf der Erde - nicht auf dem Bildschirm.

Knickern erfordert viel Fingerspitzengefühl und ein bisschen Risikobereitschaft.
Heinz-Helmut göckelt, und das macht mich wütend. Er ist mein Klassenkamerad, und trotzdem göckelt er. Das macht mich sehr wütend. Aber er ist stärker als ich. Weil er göckelt, verliere ich. Nur noch wenige Knicker habe ich in meinem Knickersack, den meine Mutter mir aus Wollresten gehäkelt hat. Es ist der Sommer 1940. Bald sind wir beide acht Jahre alt. Wir spielen zu zweit. Man kann das Spiel aber auch mit beliebig vielen Mitspielern spielen.
Auf dem Hof hinter dem langen Häuserblock haben wir ein Loch gebuddelt von der Größe und Tiefe einer Kaffeetasse. Das geht am besten mit dem Absatz, wenn ein Hufeisen darunter genagelt ist, bei den hohen Schnürschuhen der Jungen fast der Normalfall. Den Pott macht man, indem man den Absatz schräg in den Hofboden stemmt und sich dann so lange um die eigene Achse dreht, bis das gewünschte Loch entstanden ist. Fünf Schritte vom Pott entfernt wird quer dazu ein Strich in den Hofboden gezogen; der ist das Abwurfmal.
"Wer göckelt, der stinkt!"
Wer fängt an? Das muss ausgeknobelt werden. Ich verliere, und Heinz-Helmut fängt an. Er rollt vom Mal aus seinen Knicker, einen jener Tonknicker, die man im Haushaltswarengeschäft oder im Schreibwarengeschäft kaufen kann, auf den Pott zu. Drin! Jetzt bin ich an der Reihe. Auch mein Knicker ist drin. Jetzt Heinz-Helmut wieder. Sein zweiter Knicker landet zehn Zentimeter neben dem Pott. Auch nicht schlecht. Meinen zweiten Knicker trudele ich fünf Zentimeter vor den Pott. Das ist besser.
Heinz-Helmut könnte seine Position eigentlich nur verbessern, wenn er seinen dritten Knicker in den Pott macht. Nur dann könnte er mit dem eigentlichen Knickern beginnen. „Willste noch mal?“, frage ich ihn, denn solange ich besser liege, brauche ich keinen neuen Knicker zu investieren. Heinz-Helmut grinst mich an. Und ich weiß: Jetzt göckelt er. – Und er göckelt. Er wirft seinen dritten Knicker so, dass er ungefähr zwei Meter vor dem Pott liegen bleibt. „Wer göckelt, der stinkt!“, rufe ich. Doch Heinz-Helmut grinst nur.
Der Letzte gewinnt
Da einer meiner Knicker am nächsten am Pott liegt, darf ich mit dem Knickern beginnen. Indem ich den Daumen vom Zeigefinger abschnelle, knipse ich die um den Pott liegenden Knicker leicht hinein. Bleibt nur noch Heinz-Helmuts Knicker, zwei Meter vom Pott entfernt. Ein direkter Schuss zum Pott ist aus dieser Entfernung viel zu riskant. Darauf hat Heinz-Helmut gesetzt. Wenn ich den Pott verfehle, macht er den Knicker rein. Und wer den letzten Knicker in den Pott knipst, hat gewonnen und bekommt dann den ganzen Pott.
Aber so doof bin ich ja nun auch nicht. Ich knipse den Knicker nur zwanzig Zentimeter auf den Pott zu. Heinz-Helmut ist an der Reihe. Auch er knipst nur zwanzig Zentimeter. So geht das abwechselnd weiter. Aus einem Meter Entfernung wage ich schließlich den entscheidenden Schuss. – Scheiße! Der Knicker bleibt zwei Zentimeter vor dem Pott liegen. Heinz-Helmut hat keine Mühe, einzulochen und sackt sich den ganzen Pott ein.
Wütend schreie ich: „Wer wagt, der gewinnt, wer göckelt, der stinkt!“ Doch Heinz-Helmut sagt nur kalt: „Willste Revanche?“ Natürlich will ich. Aber Wut ist ein schlechter Ratgeber. Heinz-Helmut göckelt wieder und gewinnt. Sofort fordere ich Revanche. Jetzt göckel ich auch. Aber Heinz-Helmut göckelt besser.
Dann ist es soweit. Mein Knickersack ist leer. „Wer göckelt, der stinkt!“ Ich bin außer mir vor Wut. „Ja, wenn du zu doof bist!“, sagt Heinz-Helmut nur. Da gehe ich auf ihn los.
Mädchen spielen nur mit Wiedergeben
„Liesel, wollen wir Knicker spielen?“ – „Ja!“, ruft Liesel, „aber nur mit Wiedergeben!“ Ich nicke verständnisvoll. Alle Mädchen spielen Knickern nur mit Wiedergeben. Mit ihrem Knickersack erscheint Liesel auf dem Hof. „Was wollen wir spielen, Pott oder Kitsche-Spanne?“ – „Kitsche-Spanne!“, sagt Liesel.
Mit einem kleinen Stock ziehe ich einen etwa zwei Meter langen Strich in den Hofboden, fünf Meter davon entfernt einen zweiten Strich, das Abwurfmal. Helga schaut vom Balkon und sieht, was wir da machen. „Ich spiel mit!“, ruft sie und kommt auch mit ihrem Knickersack. Alle drei legen wir einen Knicker auf den Strich, im beliebigen Abstand voneinander. Wer fängt an? Das muss ausgezählt werden. Wir stellen uns im Kreis auf. Liesel beginnt mit dem Abzählreim:
Rote Kirschen ess‘ ich gern, schwarze noch viel lieber. In die Schule geh‘ ich gern, alle Tage wieder. He, da, Platz gemacht für die jungen Damen! Sitzt der Kuckuck auf dem Dach. Kommt der Regen, macht ihn nass. Kommt der liebe Sonnenschein. Dieser, diese soll es sein.
Liesel bleibt übrig und darf anfangen. Vom Mal aus versucht sie, einen Knicker auf dem Strich mit einem eigenen Knicker zu treffen, zu kitschen. Gelingt ihr das, darf sie beide Knicker behalten. Verfehlt sie, ist der Nächste an der Reihe. Ist die vorher abgemachte Knickerzahl von jedem Kind geworfen, gilt es: Kitsche oder Spanne. Das Kind, dessen Knicker am nächsten an dem Strich liegt, beginnt. Das ist Helga. Zunächst versucht sie die Spanne. Kann sie zwei Knicker mit der Spanne, mit ausgestreckten Daumen und Zeigefinger, erreichen, gehören ihr die beiden Knicker. Die anderen muss sie kitschen. Durch Knipsen muss sie einen Knicker mit dem anderen treffen, also abkitschen. Verfehlt sie, ist der Nächste an der Reihe.
Die kleinen Tonknicker sind alle gleich bunt
So spielen wir eine Zeit lang. Liesel hat schließlich die meisten Knicker erbeutet. Das macht nichts. Wir spielen ja mit Wiedergeben. Am Schluss erhält jedes Kind seine eingesetzten Knicker zurück. Ob es dieselben sind, spielt keine Rolle. Diese kleinen Tonknicker sind alle gleich bunt.
Natürlich habe ich auch später wieder mit dem Heinz-Helmut, dem ich die Beule verpasst hatte, geknickert. Schließlich gingen wir ja am Weißen Sonntag 1942 als Kommunionspaar nebeneinander zum Altar. Aber per Saldo habe ich schwer verloren. Dabei hat der Heinz-Helmut mich nicht bemogelt. Er hat gegöckelt.
Helmut Spiegel: Das Bollerrad muss bollern, der Knicker, der muss rollern – Verlorene Kinderspiele aus dem Ruhrgebiet, Henselowsky Boschmann Verlag, 9,90 Euro, ISBN: 978-3-922750-49-9
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