Michael Millgramm

Michael Millgramm aus Waltrop erinnert sich an den schlimmen Aufenthalt zur Kinderkur in Brilon vor mehr als 50 Jahren. © Martin Pyplatz

Kinderkur in Brilon 1970: Honig bis zum Würgen, grobe Bürste auf trockener Haut

rnMichael Millgramm berichtet

Michael Millgramm war sechs, als er zur „Kinderkur“ nach Brilon-Möhneburg kam. Was er dort erlebte, beschäftigt den Waltroper bis heute. Er ist einer von vielen, die dort Schlimmes mitmachten.

Waltrop

, 14.09.2022, 13:29 Uhr / Lesedauer: 4 min

Als die Münsteraner Missbrauchs-Studie veröffentlicht wurde, kommentierte Michael Millgramm bei Facebook: „Diese Studie hat für mich, der sich seit Jahren mit Berichten von Betroffenen beschäftigt, die in Kinderkuren psychische wie physische Gewalt bis hin zu sexueller Gewalt erlitten haben, eine weitere Dimension.“

In einer der Fallstudien wird beschrieben, dass die Missbrauchstaten eines Serientäters ihren Ausgang in Einrichtungen in Niendorf an der Ostsee nahmen, die zum Teil zeitgleich oder in zeitlicher Abfolge eine Internatschule, ein Kinderheim, ein Kinderkurheim und später eine Mutter-Kind-Kureinrichtung beherbergten. Es geht um einen Geistlichen, der später weltweit auf der Flucht ist - und immer wieder von hohen kirchlichen Würdenträgern vor Strafverfolgung geschützt wird.

Es waren beileibe nicht nur Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft, in denen Kindern im Rahmen von Kur-Aufenthalten psychische und physische Gewalt angetan wurde. Michael Millgramm sieht sich selbst nicht als Missbrauchs-Opfer. Aber er wurde Opfer von Übergriffigkeiten und Verletzungen der Privatsphäre, von denen er überzeugt ist: Einfach zu sagen, das sei damals eine andere Zeit gewesen, das greift zu kurz. Was er erleben musste, war auch nach den damaligen Standards in keiner Weise hinnehmbar. Inzwischen ist er mit weiteren Betroffenen vernetzt und engagiert sich in der Aufarbeitung.

Die herrische Hausmutter vergisst er nicht

Frühsommer 1970: Michael Millgramm, sechs Jahre alt, kommt zu einer Kinderkur nach Brilon. Er hat eine chronische Bronchitis. Luftveränderung soll helfen. Viel später wird festgestellt, dass er eine Hausstaub-Allergie hat, der Aufenthalt im Sauerland war also medizinisch einigermaßen nutzlos. Aber in jenen Jahren ist das noch nicht bekannt. Also: Kinderkur im „Haus Dr. Selter“, Brilon-Möhneburg. Der Dr. Selter, nach dem das Haus benannt war, ist damals schon lange tot, der Adoptivsohn der Leiterin der Einrichtung hat auch einen Doktortitel erworben, aber er ist nicht derjenige, der hier täglich das Kommando hat. Das hat Elfriede Selter, an die sich Michael Millgramm als „herrisch“ erinnert. Andere Betroffene fassen das äußere Erscheinungsbild der Dame so zusammen: „Matronenhafte Hausmutter mit immer fettig glänzendem Haar, das hinten in einer Zopfschnecke zusammengesteckt war.“

Jetzt lesen

Nicht jede der Geschichten, die andere frühere Kur-Kinder aus jener Einrichtung in Internet-Foren zu erzählen wissen, kann sich der Waltroper selbst abrufen. Er konnte vielleicht besser verdrängen als andere. Aber einiges weiß er noch genau: Dass es ständig Grießbrei zu essen gibt, so dass er sich heute vor warmer Milch ekelt. Dass man sich jeden Abend in einer Reihe aufstellen und Honig schlucken muss, ob man will oder nicht. Selbst wenn der Würgereiz einsetzt, wird keine Rücksicht genommen. Honig - wen wundert es - kann Michael Millgramm heute auch nicht mehr essen.

Das Duschen läuft so: Mit einer groben Bürste wird der nackte Körper im Gemeinschafts-Duschraum auf der trockenen Haut abgeschrubbt und die Kinder dann mit einem Schlauch eiskalt abgespritzt. Intimsphäre: komplett Fehlanzeige. Auch das Erlebnis wirkt bis heute bei Michael Millgramm nach. Und er ist nicht allein: „Die Bürstenmassage zu nachtschlafender Zeit und dann das eiskalte Wasser sind mir auch nach über 40 Jahren noch im Kopf“, schreibt ein weiterer Betroffener in einem Forum.

Ein viel zu teures Mitbringsel

Es muss sich noch viel mehr zugetragen haben im „Haus Dr. Selter“, was Millgramm nur durch Erzählungen anderer Betroffener weiß: Kinder, die zuvor keine Bettnässer waren, wurden im Heim dazu, weil man nachts nicht auf die Toilette durfte. Und dann wurden sie auch noch bloßgestellt vor den Erzieherinnen und den anderen Kindern.

Historisches Bild: Vier Kinder auf einer Bank vor einem Heim.

Glückliche Kinder? Das Bild täuscht. Der Waltroper Michael Millgramm (ganz re.) wurde in der Kinderkur in Brilon übergriffig behandelt. Mehr als 50 Jahre später beschäftigt ihn das immer noch. © privat

Mehrere Betroffene berichten, vor dem Mittagessen habe man Essigwasser trinken müssen. Das sollte den Appetit anregen, sonst gab es nichts zu essen. Und nachts sollten die Kinder im Schlafsaal mit dem Gesicht zur Wand schlafen, damit Ruhe herrschte. Wer sich nicht dran hielt, musste mit nackten Füßen auf dem kalten Fußboden vor dem Zimmer stehen.

Der heute 58-Jährige kann nicht sagen, dass seine Eltern seine Schilderungen abgetan hätten, als er wieder zu Hause waren. Im Gegenteil. Zumal die Mutter stutzig wurde: Die Kinder sollten Taschengeld nach Brilon mitnehmen, allein: Es gab weit und breit nichts zu kaufen. „Am Ende haben sie eine Art Basar veranstaltet, da habe ich eine Kleinigkeit für daheim gekauft.“ Zuhause freute man sich einerseits, andererseits stellte man schnell fest: Der Preis fürs Mitbringsel war viel zu hoch. Das „Haus Dr. Selter“ hatte wohl einen Wucher-Gewinn eingefahren.

Familie will die Betreiberin zur Rede stellen - vergeblich

Jahre später ist Millgramm mit seinen Eltern zum Familienurlaub in der Nähe von Brilon. Die Familie hat kein Auto, man war mit dem Zug angereist. Aber man findet jemanden, der bereit ist, sie mit dem Auto zu der Einrichtung nach Brilon zu fahren. Die Mutter will das, was ihrem Sohn da widerfahren war, nicht einfach so abhaken. Obwohl er ja in der sicheren Begleitung seiner Eltern nichts von der herrischen Einrichtungsleiterin zu befürchten hat, will Michael Millgramm lieber nicht in der ersten Reihe stehen, hat wohl immer noch Angst. Er bleibt mit dem Vater etwas zurück, während die Mutter schellt; sie will Elfriede Selter konfrontieren. „Aber sie ließ sich verleugnen, oder sie war tatsächlich nicht da, das weiß ich nicht. Jedenfalls wurde daraus nichts.“

Skurriles Foto mit dem Dackel des Hauses

Michael Millgramm wurde später noch ein zweites Mal zu einer Kinderkur geschickt, mit 14, diesmal ins Allgäu. Nach der ersten Erfahrung hatte er Ängste, Ähnliches noch einmal erleben zu müssen, aber nein: Dort hatte er einen guten Aufenthalt - er persönlich. Heute weiß er, dass es in eben jener Zeit an jenem Ort auch zu schwerem sexuellen Missbrauch kam.

An die Zeit in Brilon aber erinnert heute noch ein Foto. Darauf ist Millgramm selbst mit drei anderen Kindern und dem Dackel des Hauses zu sehen. Im Netz finden sich weitere Bilder von ehemaligen „Gästen“ des Heims: Andere Kinder, leicht abweichende Jahrgänge. Dieselbe Pose. Derselbe Dackel. Skurril. „Solche Bilder bekam man damals zur Erinnerung mit nach Hause“, schreibt jemand dazu.

Zur Aufarbeitung nach Bad Sassendorf

Michael Millgramm engagiert sich heute in der Aufarbeitung der Geschehnisse. Es gibt die Initiative „Aufarbeitung Kinderverschickungen – NRW“. Die macht auch aufmerksam auf den vierten bundesweiten Kongress mit dem Titel „Das Elend der Verschickungskinder“, der diesmal vom 15. bis 18. September in Bad Sassendorf stattfindet. Michael Millgramm wird dabei sein, Vorträge von Wissenschaftlern hören, an Erfahrungsaustauschen teilnehmen. Die Wahl des Veranstaltungsortes ist kein Zufall: Bad Sassendorf ist ein Solebad und war ein Kinderkurort mit vielen Verschickungsheimen. „Dort wurde uns eine Veranstaltungshalle für 600 Menschen von der Gemeinde unentgeltlich zur Verfügung gestellt – als Zeichen der Anerkennung unseres Leids“, heißt es auf der Internetseite zur Veranstaltung.

Michael Millgramm ist mit seinen Erlebnissen also wahrlich nicht alleine. Zwischen 1950 und 1990 wurden Millionen Kinder in sogenannte Kinderkurheime zur Erholung verschickt, nach Angaben der Initiative allein 1,8 Millionen aus und nach Nordrhein-Westfalen. „Statt gesund, kamen viele Verschickungskinder traumatisiert zurück. Wie konnte das passieren?“ Diese Frage treibt auch Michael Millgramm um. Noch 52 Jahre nach seinem Aufenthalt im „Haus Dr. Selter“, Brilon-Möhneburg.

Weitere Betroffene können sich unter info@akv-nrw.de an den Verein wenden.

Schlagworte: