Kinderkur: Für den Waltroper Wolfgang Blauza war es „die Hölle“

© Thomas Bartel

Kinderkur: Für den Waltroper Wolfgang Blauza war es „die Hölle“

rnTrauma Kinderkur

Hunderttausende Kinder wurden in den 60er-Jahren in berüchtigte Kinderkuren geschickt. Viele kamen traumatisiert zurück - uns erzählt Wolfgang Blauza (68) aus Waltrop seine Geschichte.

Waltrop

, 19.01.2022, 21:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

„Es war die Hölle“, sagt Wolfgang Blauza. Der heute 68-Jährige hatte am Dienstagmorgen den Titelaufmacher der Zeitung über das „Trauma Kinderkuren“ gelesen und meldete sich sofort in unserer Redaktion: „Eines dieser Kinder war ich“, bekennt er - „und das wissen nicht viele Menschen.“ Jetzt, wo fest steht, wie viele Menschen ein ähnliches Schicksal wie er im Sommer 1963 erlebt haben, will er seine Version kundtun. „Das hilft, um die Sache zu bewältigen“, meint er. „Und vielleicht haben andere Kinder damals noch viel Schlimmeres erlebt.“

Mit zehn Jahren wurde Wolfgang Blauza zur Kinderkur nach Borkum „verschickt“, angeblich, weil er zu mager war. Für sechs Wochen sollte er in ein katholisches Kurheim auf die Nordseeinsel gehen. Schon die wellige Überfahrt war eine Tortur. Und in der Einrichtung führten die Nonnen ein hartes Regime. Früh aufstehen, früh ins Bett und dreimal täglich beten, das war normal. „An Anwendungen kann ich mich kaum erinnern, höchstens an einen Inhalationsraum“, erinnert sich der Waltroper.

Der Junge mit dem schwarzen Hund (auf dem rechten Foto unten) ist Wolfgang Blauza. Lustig ging es in einem Heim allerdings nicht zu.

Der Junge mit dem schwarzen Hund (auf dem rechten Foto unten) ist Wolfgang Blauza. Lustig ging es in einem Heim allerdings nicht zu. © Thomas Bartel

Strafe - wenn der Teller nicht leer wurde

„Schlimm war das Essen, meist Fisch, Eintopf oder Königsberger Klopse mit Kapern. Dabei war ich deftiges Essen gewohnt. In meiner Kindheit war ich oft auf einem Bauernhof in Ickern“, erklärt er. „Und wenn dann der Teller nicht leer wurde, kam die Strafe: Dann wurde man an den Ohren gezogen und zu einer Stunde Küchendienst herangezogen - immer wieder.“ An Züchtigung kann sich Wolfgang Blauza nicht erinnern, wohl aber an Stiche mit den Fingern auf Oberarm oder Oberschenkel. „Das tat weh.“

Nachts durfte niemand auf die Toilette

Auch nachts war es kaum auszuhalten: „Wenn ich den rund 20 Jungen im Zimmer einen Witz oder eine Geschichte erzählte - ich habe gern den ,Clown‘ gespielt -, wurde ich von der Aufsicht auf den dunklen Flur geholt, wo ich eine Stunde still in der Ecke stehen musste. Und dann hörte ich immer das leise Weinen der Kameraden, die sich eingenässt hatten. Denn nachts durfte niemand auf die Toilette.“ Nur einmal pro Woche ging es zum Spielen an den Nordseestrand - und dort wurden dann auch idyllische Fotos mit strahlenden Kinder-Gesichtern angefertigt, die den Eltern zur Beruhigung nach Hause geschickt wurden.

„Nach der Rückkehr bin ich zusammengeklappt“

Und als die sechs Wochen rum waren, meine Eltern und Geschwister waren in der Zeit von Ickern nach Waltrop gezogen, begann direkt die Schule. „Nach drei Tagen klappte ich zusammen, jetzt wirklich untergewichtig und gedrückt durch Angstzustände. Niemand wusste, was mit mir los war“, berichtet der heute 68-Jährige. Die Mutter bat in ihrer Verzweiflung um Rückversetzung in der Schule, doch das ließ die Leitung der Hirschkampschule nicht zu. „Obwohl ich vorher kein schlechter Schüler war, ließen die Leistungen nach, bekam ich Panik vor Klassenarbeiten, schwänzte die Schule.“ Dass er schließlich die Versetzung ins 5. Schuljahr nicht schaffte, war das für den damals Elfjährigen die nächste Demütigung.

Sport und Familie haben Halt gegeben

Erst Schritt für Schritt ging es dann wieder aufwärts für Wolfgang Blauza: Vor allem der Sport hat ihm wieder Halt gegeben, einen Kinderpsychologen gab es für ein Arbeiterkind wie ihn damals nicht. „Ich habe alles ausprobiert: ob Reiten oder Rudern. Beim Fußball lief es dann recht erfolgreich - etwa in der B-Jugend mit Torjäger Manni Heier bei Teutonia. Oder später in Hamm in der Landesliga - bis die Ausbildung als Starkstrom-Elektriker dafür keine Zeit mehr ließ.“ Heute ist er stolz auf seine Ehefrau, seine drei Kinder und vier Enkelkinder, die ihm immer Halt gegeben hätten.

„Die Kinderkur auf Borkum hat mich stark geprägt und mindestens ein Jahr meines Lebens gekostet“, ist sich Wolfgang Blauza heute sicher. Früher habe die Geschichte niemanden interessiert, erst der Zeitungsbericht habe ihm die Augen geöffnet. „Jetzt kann ich endlich einen Schlusspunkt setzen“, sagt er zum Abschied.

Jetzt lesen

Schlagworte: