Kein Ende in Sicht: die Corona-Proteste einer radikalen Minderheit
Coronavirus
Mehrmals sah es so aus, als sei bei den radikalisierten Corona-Protesten die Luft raus. Doch seit einigen Wochen finden immer mehr Demos statt – und es dürfte noch längst nicht vorbei sein.

Bei Protesten gegen Corona-Maßnahmen ist es in Bautzen zu Ausschreitungen gekommen. © picture alliance/dpa/B&S
Der rote Schein einer brennenden Leuchtfackel und das Stroboskopblitzen der Polizeitaschenlampen erleuchten am Montag den dunklen Dezemberabend in Bautzen. Mit einem lauten Knall explodiert ein Böller zwischen den Beinen der behelmten Bereitschaftspolizisten. Laute „Widerstand“-Rufe schallen durch die Straßen.
Es sind Bilder einer Eskalation, die wenige Stunden später im sozialen Netzwerk Telegram herumgeschickt werden – als Beweis des vermeintlich heldenhaften Mutes der rund 500 Demonstrantinnen und Demonstranten, die in der ostsächsischen Stadt auf die Straße gegangen sind und von denen sich einige an heftigen Ausschreitungen und Angriffen auf die Polizei beteiligten.
Viele demonstrieren gegen den Staat an sich
Der „Widerstand“, der hier geleistet wird, richtet sich nur vordergründig gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und eine mögliche Impfpflicht. Viele demonstrieren längst gegen den Staat an sich, gegen den demokratischen Grundkonsens einer freiheitlichen Gesellschaft. In Bautzen laufen die Demonstrierenden – rechtsextreme wie vermeintlich bürgerliche – hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Heimatschutz statt Mundschutz“ her. Zwölf Polizisten werden laut Polizeiangaben bei den Ausschreitungen verletzt, die beginnen, als die Einsatzkräfte einen nicht zulässigen Aufzug stoppen.
Zeitgleich mit dem eskalierten Protest in Bautzen fanden am Montagabend in vielen Städten bundesweit Corona-Demonstrationen statt – teilweise mit mehreren Tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Die montäglichen Proteste, oft als „Spaziergang“ betitelt und nur selten angemeldet, hatten sich im Herbst zunächst vor allem in Sachsen ausgebreitet. Treibende Kraft war dabei die vom Verfassungsschutz beobachtete rechtsextreme Gruppe „Freie Sachsen“. Aus dem Protestphänomen im Freistaat ist seitdem jedoch längst ein deutschlandweites geworden.
Dabei sah es kurz vor dem letzten Jahreswechsel beinahe so aus, als sei die Luft raus bei den Pandemieprotesten. Nach Verboten durch die Berliner Polizei sagte der Initiator der „Querdenken“-Protestbewegung, der Stuttgarter Michael Ballweg, mehrere Demonstrationen in der Hauptstadt ab und kündigte an, zunächst keine weiteren Großdemonstrationen mehr anmelden zu wollen.
Die Impfkampagne gegen das Coronavirus war gerade gestartet und verbreitete in der Mehrheit der Bevölkerung die Hoffnung, die Pandemie könnte bald ihr Ende finden. Ähnliche Hoffnungen machten sich viele auch mit Blick auf die bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich radikalisierte „Querdenker“-Bewegung. Im Frühjahr flammten die „Querdenker“-Proteste mit großen Demonstrationen in Kassel und Stuttgart zwar noch einmal auf.
Zu „Großdemos“ kamen bloß wenige Menschen
Eine ganze Reihe weiterer Demonstrationen im Frühjahr und Sommer schien die Hoffnung vom „Querdenker“-Ende aber zu bestätigen: Zu breit beworbenen „Großdemos“, die den Auftakt zu einem Protestsommer bereiten sollten, kamen bloß wenige Hundert Menschen. Expertinnen und Experten warnten trotzdem vor Hoffnungen auf ein frühzeitiges Ende der Corona-Proteste.
„Wir wissen nicht, wie die Pandemie weiter verläuft“, sagte die Sozialpsychologin und Szenebeobachterin Pia Lamberty dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) im Juni. Damals breitete sich die Delta-Variante des Coronavirus gerade in Deutschland aus. Mögliche neue Verschärfungen der Schutzmaßnahmen standen im Raum. „Dann steigt der Handlungsdruck für die Szene wieder“, erklärte Lamberty. Auch einzelne Landesämter für Verfassungsschutz warnten frühzeitig, dass sich das radikalisierte und gut vernetzte Personenpotenzial der Corona-Leugner-Szene künftig schnell wieder mobilisieren lassen könnte.
Die dezentralen Proteste in Dörfern, Klein- und Großstädten in ganz Deutschland sind dieses Revival. Sie funktionieren ohne einen zentralen Akteur wie Michael Ballweg und seinen „Querdenken“-Verein. Wer jetzt Teil der „Bewegung“ sein will, muss nicht Hunderte Kilometer fahren, sondern nur den kurzen Weg in die lokale Innenstadt antreten. 2G-Regeln, Kontaktbeschränkungsmaßnahmen und Diskussionen über eine mögliche allgemeine Impfpflicht geben dem Protest neuen Aufwind.
Dabei gilt für die über die Republik verstreuten Montagsproteste immer noch, was bereits für die „Querdenker“-Großdemos im Sommer 2020 galt: Sie repräsentieren bloß eine kleine Minderheit. Mehr als 80 Prozent der Erwachsenen in Deutschland sind vollständig geimpft, eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützt laut Umfragen Kontaktbeschränkungen und andere Corona-Schutzmaßnahmen.
Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten
Wie aggressiv und gewaltbereit Teile der demonstrierenden Minderheit jedoch sind, erleben viele Journalistinnen und Journalisten schon seit Beginn der Pandemieproteste regelmäßig beim Versuch, darüber zu berichten – und oftmals am eigenen Leib.
Im Jahr 2020 registrierte das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) 69 tätliche Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten – so viele wie nie seit Beginn der Erhebung sechs Jahre zuvor. Mehr als zwei Drittel dieser Angriffe fanden demnach bei Corona-Demonstrationen statt. 2021 seien die Zahlen noch höher, sagt Jörg Reichel, Berliner Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistenunion (DJU) in der Gewerkschaft Verdi dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Zwar würde die endgültige Auswertung erst im Frühjahr veröffentlicht, eine Tendenz zeichne sich aber schon deutlich ab. „Die Journalistinnen und Journalisten werden angespuckt, geschlagen, gestoßen, mit Pfefferspray besprüht, das Equipment zerstört oder sie werden privat bedroht“, sagt Reichel. Das sei ein bundesweites Problem. „Es gibt keinen Land-Stadt- oder Ost-West-Unterschied.“ Allein im Dezember habe es bereits Übergriffe in mindestens 19 Städten gegeben.
Jeder solcher körperlichen Angriffe sei eine brutale Erfahrung, sagt Reichel, der im Sommer selbst bei einer „Querdenker“-Demo in Berlin vom Fahrrad gezerrt, geschlagen und getreten und dabei verletzt wurde. Er befürchtet eine weitere Eskalation durch immer heftigere Attacken: „Wir gehen davon aus, dass irgendwann auch ein Journalist durch einen Querdenker sterben wird, da regelmäßig in das Gesicht geschlagen wird.“
Durch die gestiegene Gefahr finde immer mehr tagesaktuelle Berichterstattung aus der Distanz statt, sagt Reichel. Viele Fernsehteams berichten nur noch mit angeheuerten Sicherheitsleuten von Corona-Protesten. Gerade freiberufliche Journalistinnen und Journalisten, die sich so etwas nicht leisten können, seien besonders bedroht, erklärt der Journalistengewerkschafter.
Reichel besorgt noch etwas anderes. „Was zudem immer wieder erschütternd ist, dass sich durch alle Corona-Proteste der offene Antisemitismus durchzieht“, sagt er. Diese Sorge teilt auch Elio Adler, Vorsitzenden des jüdischen Vereins Werteinitiative. „Bei den Protesten einer ganzen Reihe von ‚Querdenkern‘ zeigt sich klar, wie gut sich die unterschiedlichsten Teilnehmenden auf gemeinsame, antisemitische Narrative einigen können“, sagt er. Die vielen mit der Corona-Pandemie verbundenen Unwägbarkeiten lösten Ängste aus. „Und für diese Ängste werden Verantwortliche gesucht.“
Dass es auch in der Corona-Pandemie Jüdinnen und Juden sind, die von Verschwörungsgläubigen für verantwortlich erklärt werden, überrascht Adler nicht – „schließlich mussten wir historisch immer wieder als Sündenböcke herhalten“, sagt er. Sein Appell: „Die weitreichende Gefahr, die von dieser Querfront für Einzelne und unsere Gesellschaft ausgeht, muss äußerst ernst genommen werden.“
Polizisten bekommen Aggression zu spüren
Die Aggression und Gewaltbereitschaft bei Corona-Protesten bekommen unterdessen auch die dort eingesetzten Polizisten oft hautnah zu spüren. „Die vielen Corona-Proteste sorgen für eine riesige Belastung für die Einsatzkräfte“, sagt Oliver Malchow, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Die Länder unterstützen sich bundesweit untereinander mit Personal. Insbesondere die Bereitschaftspolizisten fahren von einem Einsatzgebiet ins nächste“, erklärt er.
Bei den Einsätzen seien nicht nur Anfeindungen und Angriffe auf die Polizeibeamten ein Problem, so Malchow. Wenn bei gewalttätig verlaufenden Demonstrationen wie am vergangenen Wochenende im bayerischen Schweinfurt auch noch Kinder anwesend seien, stelle das die Polizei vor besondere Herausforderungen. „Wir erleben es immer wieder, dass Kinder im Kinderwagen als Schutzschild mitgeführt werden. Das ist besonders perfide“, sagte der Polizeigewerkschafter.
Dabei habe die Polizei auch ohne die Proteste genug zu tun. „Um diese Einsätze zu bewältigen und eine Entlastung für die Beamten zu bekommen, bräuchten wir eigentlich mehr Personal“, klagt Malchow. „Diese Belastung macht etwas mit meinen Kolleginnen und Kollegen.“
Psychische Belastungen für Polizei-Beamte
In den vergangenen Jahren hätten die Bundesländer deutlich mehr Personal im psychologischen Dienst der Polizei eingestellt, die Polizeibeamten seien außerdem deutlich offener geworden, solche Angebote anzunehmen. „Aber so ein Angebot bringt nur etwas, wenn es auch relativ zügig genutzt werden kann. Wenn die Beamten von Einsatz zu Einsatz geschickt werden, staut sich das alles auf“, sagt der Gewerkschaftschef.
Die Polizistinnen und Polizisten würden trainiert, die Belastung durch körperliche Angriffe, verbale Gewalt und Demütigungen im Dienst auszuhalten, erklärt Malchow. „Aber sie gehen mit dieser psychischen Belastung auch durch ihr Leben.“
Auch in den kommenden Monaten wird diese Belastung voraussichtlich nicht abnehmen: Anfang Januar soll der Deutsche Bundestag die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht debattieren. Viel spricht dafür, dass eine Mehrheit der Abgeordneten am Ende zumindest für eine abgestufte Form einer solchen Pflicht stimmt.
Die Proteste dürften dadurch noch weiter angefacht werden, auch eine weitere Radikalisierung der Impfgegner scheint wahrscheinlich. Für Politik und Sicherheitsbehörden gilt es, sich darauf vorzubereiten. Die nächste Welle an Protest und möglichen Gewalttaten kann nach fast zwei Jahren der Pandemieproteste niemanden mehr überraschen.
RND
Der Artikel "Kein Ende in Sicht: die Corona-Proteste einer radikalen Minderheit" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.