Kampf um Großstädte, Widerstand in Melitopol: Scheitert die „klassische Besatzungspolitik“ Russlands
Krieg gegen die Ukraine
Während russische Streitkräfte nun gezielt Großstädte ins Visier nehmen, wächst der Widerstand in bereits eroberten Städten. Rufe nach einem Frieden mit Sicherheitsgarantien scheinen aussichtslos.

Ein Mann verlässt am Dienstag mit einer Aktentasche sein Wohnhaus in Kiew, das von der russischen Armee beschossen wurde. © picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire
Während in Kiew am Dienstag erneut Wohnhäuser bei russischen Raketenangriffen zerstört wurden, versucht Russlands Statthalterin Halyna Daniltschenko im 500 Kilometer weiter südlich gelegenen Melitopol, den ukrainischen Widerstand in der bereits eroberten Stadt zu brechen. Demonstrationen und Waffen sind verboten, zwischen 18 und 6 Uhr gilt eine Ausgangssperre, und ein „Komitee der Volksdeputierten“ soll anstelle des gewählten Stadtrates Entscheidungen treffen. Ähnliche Maßnahmen haben russische Kommandanten für andere Städte angekündigt.
Daniltschenko war bisher Oppositionspolitikerin in Melitopol, gilt als moskautreu und schwor die Menschen in einer Videobotschaft sogleich auf die „neue Realität“ ein. Doch davon wollen viele Menschen in der besetzten Stadt nichts wissen. Hunderte gingen am Dienstag erneut auf die Straßen und forderten die Freilassung des entführten Bürgermeisters. Dieser hatte sich vehement geweigert, „mit dem Feind zu kooperieren“, und wurde von russischen Truppen medienwirksam abgeführt. Mehrere Demonstranten sollen am Dienstag bei den Protesten in Melitopol festgenommen worden sein.
Dauerhafte Besetzung laut Experten unmöglich
Was sich in der Hafenstadt im Süden der Ukraine abspielt, sei eine „ganz klassische Besatzungspolitik“, analysiert der Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger. „Zuerst wird ein Gebiet militärisch eingenommen, dann werden die Verwaltungsstrukturen gekapert oder neu aufgebaut“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). In Melitopol werde Russland mit dem Austausch der Verwaltungsspitze aber keinen Erfolg haben, ist sich der Experte sicher. „Den von Russland eingesetzten Statthaltern mangelt es an innerer und äußerer Legitimität.“ Jäger hält es für möglich, dass die Bevölkerung die Statthalterin ignoriert oder passiven Widerstand leistet.
Bisher muss das russische Militär die Macht von Daniltschenko sichern. Eine dauerhafte Besetzung ukrainischer Städte ist laut Experten unmöglich. Das bekommt der Kreml schon jetzt zu spüren. Täglich gibt es auch in anderen besetzten Städten Proteste, wie in Cherson, Berdjansk und Nowa Kachowka. „Russland muss in den Sicherheitsapparat der eingenommenen Städte besatzertreue Personen einsetzen“, erklärt Jäger die nächsten Schritte.
Polizisten könnten gezwungen werden, ihre neue Loyalität zu bekunden oder entlassen werden. Das britische Verteidigungsministerium warnte am Dienstag, dass Russland mit einem Scheinreferendum in mehreren Großstädten nach Luhansk und Donezk nun weitere Gebiete für unabhängig erklären will.
Kiew und andere Großstädte im Visier Moskaus
Der Kampf um die Großstädte war für Russland nur in wenigen Fällen erfolgreich. Nun hat Moskau die Angriffe verstärkt, beobachtet Heinrich Brauß, Generalleutnant a. D. der Bundeswehr. „Wir sehen einen Bombenterror gegen Großstädte der Ukraine“, sagte er dem RND. „Russland attackiert die Hauptstadt Kiew und Städte wie Charkiw, um die Selenskyj-Regierung abzusetzen und durch eine moskauhörige zu ersetzen und die Verwaltung und Versorgung des Landes zu kontrollieren.“
Die Großstädte seien die Regierungs-, Verwaltungs- und Versorgungszentren. Wer dort an der Macht sei, könne die Lebensmittel-, Wasser- und Energieversorgung kontrollieren und so die Bevölkerung entmutigen und zum Aufgeben zwingen. „Womöglich glaubt die russische Führung: Wer die Hauptstadt hat, der hat Herz und Hirn einer Nation.“
„Wenn die Ukrainer aber Kiew weiter halten können, hätte das wohl einen erheblichen demoralisierenden Effekt auf die russischen Truppen“, so Brauß, der zuletzt für die Nato tätig war. Mehr als einen Küstenstreifen im Süden und Gebiete im Norden und Osten habe Russland auch nach mehr als drei Wochen Angriff bisher nicht einnehmen können. Dabei seien die Raumgewinne im Süden noch am größten. „Im Donbass kommen dagegen die russischen Streitkräfte bisher fast gar nicht voran.“
Für Russland sei es wohl wichtig, eine Verbindung zwischen Krim und Donbass zu schaffen, vor allem um die Versorgung der Krim in Zukunft sicherzustellen. „Wenn Russland den gesamten südlichen Streifen bis Odessa einnimmt, wäre die Ukraine vom gesamten Schwarzen Meer abgeschnitten und dadurch ökonomisch sehr geschwächt“, so der Experte. Der ukrainische Generalstab erklärte am Dienstag, dass russische Truppen im Norden Kiews und auch im Westen keine Städte einnehmen konnten.
Russlands Truppen bei Häuserkampf im Nachteil
Der Generalleutnant a. D. erklärte, dass sich keine Strategie Russlands erkennen lasse. „Aus meiner Sicht stellt sich die Frage, was überhaupt der Schwerpunkt der russischen Angriffe ist. Die bisherigen Vorstöße und insgesamt begrenzten Geländegewinne nach drei Wochen Angriff lassen keinen eindeutigen Schwerpunkt erkennen“, sagte er im Gespräch mit dem RND.
Derzeit schätzt Brauß die Lage so ein, dass Russland die ukrainische Armee nicht besiegen und das gesamte Land besetzen kann. Die 150.000 russischen Soldaten würden dazu bei Weitem nicht ausreichen. „Mich wundert, dass die russische militärische Führung dies offenbar nicht erkannt hat.“ Moskau habe sich von Beginn an auch schwer in der Einschätzung der Qualität der ukrainischen Armee getäuscht.
Der Kampf um die Großstädte der Ukraine dürfte laut Experten lang und blutig werden. Brauß weist darauf hin, dass sich die russische Armee damit in einen Straßen- und Häuserkampf begebe, der für eine mechanisierte Truppe mit Panzern tödlich sei. „Die russischen Truppen sind dabei klar im Nachteil, denn die ukrainischen Verteidiger kennen jeden Winkel ihrer Stadt, die U‑Bahn‑Schächte und die Kanalisation.“
Die russische Armee müsse sich darauf einstellen, dass sie „aus allen Kellerfenstern und Häuserschächten“ beschossen werde. Auch der ehemalige Nato-General Domröse hatte die Überlegenheit ukrainischer Truppen in den Städten betont.
Aus Kreisen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj hieß es, der Krieg könnte noch bis Mai andauern. Am Dienstag wurden die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland fortgesetzt. Moskau fordert eine neutrale Ukraine und die Anerkennung von Donezk, Luhansk und der Krim. „Wenn Selenskyj gegenüber Russland Zugeständnisse macht, bleibt abzuwarten, ob er eine solche weitreichende politische Kapitulation überhaupt gegenüber dem Parlament durchsetzen kann“, sagte der Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck dem RND.
Selenskyjs Forderungen an die Nato nach Sicherheitsgarantien sieht Mangott kritisch. „Das wäre eine Nato-Bündnisgarantie durch die Hintertür.“ Westliche Staaten müssten die Ukraine gegen zukünftige militärische Aggressionen Russlands verteidigen – das hält Mangott für unwahrscheinlich.
RND
Der Artikel "Kampf um Großstädte, Widerstand in Melitopol: Scheitert die „klassische Besatzungspolitik“ Russlands" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.