Es ist kurz nach 1 Uhr in der Neujahrsnacht, als ein 39-Jähriger mitten in Kamen die Geräusche einer Schlägerei hört. „Schreie, Beleidigungen, Hilferufe“, schildert er Tage später. Geäußert auf Türkisch und Arabisch, aber auch auf Deutsch. „Das war eine bunt gemischte Truppe“, kann es der Kamener immer noch nicht fassen. Denn diese „bunt gemischte Truppe“, etwa 15 bis 20 junge Männer zwischen 16 und 24 Jahren, ging mit massiver Gewalt auf einen Einzelnen los.
Der 39-Jährige, dessen Name zum Schutz vor Repressalien nicht veröffentlicht wird, zögert nicht. Ohne Jacke eilt er zu der Gruppe und stellt sich zwischen das Opfer und die Angreifer. „Ich habe drei Kinder – und ich habe dennoch einfach mein eigenes Leben riskiert“, sagt der Kamener im Nachhinein kopfschüttelnd. „Meine Frau hatte eines unserer Kinder auf dem Arm und hat vor Angst nur geweint.“
Doch er habe einfach handeln müssen. „Ich konnte doch da nicht zusehen“, sagt er. „Ich bin ein Helfertyp. Das ist mir so beigebracht worden.“ Zeit, die Polizei zu rufen, hat er in der Neujahrsnacht nicht. „Ich bin einfach dazwischen. Die hätten den sonst womöglich umgebracht.“ Der mutige Helfer geht nämlich davon aus, dass die Bande ihr Opfer, einen 38-Jährigen aus Kamen, in die dunkle Weerenstraße treiben wollte, die weniger einsichtig ist als die Weststraße.
Als er bei der Schlägerei ankommt, bemerkt er die Spuren von Tritten und Schlägen auf dem nackten Oberkörper des Opfers. „Die hatten ein Messer und das Opfer blutete am Hals“, schildert der Helfer und fasst sich dabei selbst im Bereich seines Ohres an den Hals. „Ich hab mich mit breiten Armen vor ihn gestellt und gesagt, dass ich die Polizei rufe“, schildert der Helfer den Moment seiner Zivilcourage. „Ich hatte natürlich selbst Angst, dass die mir was tun“, sagt er. Aber er sei nur beleidigt worden, nur beschimpft, einen weiteren Angriff gab es nicht. Weder auf ihn noch auf das ursprüngliche Opfer. Stattdessen zog die Truppe lachend in Richtung Kamen Quadrat davon.

Was für den Retter in der Not bleibt, ist die Frage nach dem Warum. „Wir haben uns früher auch gestritten“, sagt der 39-Jährige. „Aber mit 15 bis 20 Leuten auf einen, das gab es doch nicht.“ Deshalb kommt der Mann, der in Kamen geboren wurde und genau wie das Opfer die deutsche Staatsbürgerschaft hat, auch zu einem traurigen Schluss: „Ich fühle mich hier nicht mehr sicher. Ich habe Angst, dass die mich beim nächsten Mal packen, wenn sie mich sehen. Ich muss mich jetzt um mich sorgen.“
Dass es ein Raubüberfall war, dem der 38-Jährige zum Opfer fiel, ist unwahrscheinlich. „Das Portemonnaie lag hinterher neben seiner Jacke auf der Bank. Nur der Pullover war weg“, weiß sein Retter. Es schätzt, dass es eher um das Ausüben von Gewalt ging. Denn die Gruppe, die den Angriff verübte, bezeichnet der Kamener als DM-Gang, die schon mehrmals für Ärger in der Stadt sorgte. „Ein paar kannte ich vom Sehen.“ Einige hätten sich von ihm weggedreht, doch andere habe er gut erkennen können. „Die Haupttäter kannte ich aber nicht“, sagt er.
Die Polizei bestätigt, dass es Hinweise auf Tatverdächtige gäbe. Die Ermittlungen laufen. Der couragierte Helfer werde auch nochmals ausführlich zu dem Vorfall befragt, heißt es. Der Kamener will bei all dem gerne mitwirken. „Ich werde dann auch irgendwann vor Gericht entsprechend aussagen“, sagt er. „Das kann doch so nicht weitergehen.“
Das Opfer und der Retter haben Glück, dass ein Krankenwagen wegen eines anderen Einsatzes am Geist in der Nähe ist. Dorthin bringt der Kamener das blutende Opfer, das versorgt wird und ins Krankenhaus kommt. Auch die Polizei ist in der Nähe und gemeinsam mit dem Beamten begibt sich der Kamener noch auf die Suche nach der Gang. Erfolglos. „Die hatte sich da schon zerstreut.“