In Deutschland startet erstmals ein umfassendes Pilotprojekt zur Viertagewoche, wie das RND exklusiv von der Beratungsagentur Intraprenör erfuhr. Die Agentur ist für die Koordination des Projekts in Deutschland verantwortlich. Nach erfolgreichen Modellversuchen in den USA, Australien, Island und zuletzt Großbritannien werden im kommenden Jahr Unternehmen aus ganz Deutschland das Arbeitszeitmodell testen. Über einen Zeitraum von sechs Monaten, beginnend am 1. Februar, werden sie ihre Arbeitszeit von fünf auf vier Tage reduzieren, während das Gehalt unverändert bleibt.
Mehr als 50 Unternehmen aus verschiedenen Branchen und unterschiedlicher Größe sollen an der Studie teilnehmen. Die Bewerbungsphase beginnt am 1. September. Nach einer Planungsphase, die der individuellen Vorbereitung der teilnehmenden Firmen dient, findet der eigentliche Test von Februar bis August 2024 statt. Anschließend folgt eine wissenschaftliche Auswertung.
Modell nach britischem Vorbild
Begleitet wird das Projekt von der Initiative 4 Day Week Global. Die Organisation führte bereits den bisher größten Test der Viertagewoche in Großbritannien durch. Wissenschaftlich unterstützt und ausgewertet wird die deutsche Pilotstudie von der Universität Münster. Die Unternehmensberatung Intraprenör hilft den Firmen bei der Auswahl passender Arbeitszeitmodelle. Ein einheitliches Modell für alle Unternehmen und Beschäftigten ist nicht vorgesehen.
„Das Ziel ist eine Reduktion der Arbeitsstunden bei gleichbleibendem Gehalt“, sagt Jan Bühren von der Beratungsfirma Intraprenör. Die Initiative 4 Day Week Global bezeichnet das auch als sogenanntes 100-80-100-Prinzip, das heißt: 100 Prozent Gehalt, 80 Prozent Arbeitszeit und 100 Prozent Leistung. Dafür können die Unternehmen individuelle Lösungen finden. Bei dem britischen Modellversuch hatten sich die meisten Firmen entschieden, nur noch von Montag bis Donnerstag zu arbeiten.
Vor- und Nachteile sollen beleuchtet werden
Die Viertagewoche wird in Deutschland seit Längerem intensiv diskutiert. Zahlreiche Unternehmen hierzulande haben das Arbeitszeitmodell bereits etabliert. Ein systematischer und wissenschaftlich begleiteter Test über mehrere Branchen hinweg fehlt jedoch bisher. „Wir erhoffen uns von der Pilotstudie eine Weiterentwicklung der Diskussion über die Viertagewoche. Dafür schaffen wir eine Grundlage“, sagt Jan Bühren.
Die Pilotstudie wird sowohl die positiven Effekte als auch mögliche Nachteile und Risiken beleuchten. Dazu wurde ein Beirat gegründet, dem unter anderem Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaft IG Metall, des Arbeitgeberverbands BDA und des Zentralverbands des Deutschen Handwerks angehören. Zentrale Fragen sind dabei die Arbeitszeitwünsche und die Gesundheit der Beschäftigten. Daneben betonen die Organisatoren und Beiratsmitglieder den Beitrag einer Viertagewoche zur Förderung von Gleichstellung, Klimaschutz und Arbeitgeberattraktivität.
„Flexible Arbeitszeiten sind für viele Unternehmen ein wichtiger Anreiz bei der Fachkräftegewinnung. Dazu zählt auch die Viertagewoche“, sagt Kristian Schalter vom Arbeitgeberverband BDA, der im Beirat der Pilotstudie vertreten ist. Eine pauschale Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich ist nach seiner Aussage für die überwiegende Mehrheit der Unternehmen aber keine Option.
„Viertagewoche setzt Geschichte der Arbeitszeitverkürzung fort“
Sophie Jänicke von der IG Metall äußert sich positiv: „Eine Viertagewoche entspricht dem Wunsch vieler Beschäftigten.“ Das Modell könne mehrere Zwecke erfüllen: „In vielen Betrieben hat sich die Viertagewoche zur Sicherung von Arbeitsplätzen bewährt, sie erhöht die Work-Life-Balance von Beschäftigten und kann damit auch die Attraktivität von Unternehmen steigern“, sagt Jänicke, die ebenfalls dem Beirat der Pilotstudie angehört.
Sie sieht in der Viertagewoche auch einen Beitrag zu mehr Klimaschutz durch weniger Pendelverkehr und zu gesünderem Arbeiten bis zur Rente. „Perspektivisch setzt eine Viertagewoche die Geschichte der Arbeitszeitverkürzung in Deutschland fort“, so Jänicke.
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) äußert sich zurückhaltender und verweist darauf, dass die Einführung einer Viertagewoche immer eine individuelle betriebliche Entscheidung sein müsse. „Gerade bei kleineren Betrieben ist es fraglich, ob bei einer ohnehin dünnen Personaldecke auf einzelne Beschäftigte ohne Weiteres für einzelne Tage dauerhaft verzichtet werden kann“, teilt eine Sprecherin des ZDH auf Anfrage mit.
Kristian Schalter vom Arbeitgeberverband BDA erhofft sich von der Studie eine breite Datenbasis aus zahlreichen Branchen, um Möglichkeiten und Grenzen des Modells besser zu verstehen. „Spannend wird die Frage sein, ob ein Absenken der Arbeitszeit mit einer signifikanten Produktivitätssteigerung einhergeht. Ohne diese Steigerung der Produktivität wäre das Modell der Viertagewoche für Unternehmen langfristig kaum tragbar“, sagt er.
Burn-out-Risiko sank um 71 Prozent
Dass kürzere Arbeitszeiten nicht zwangsläufig zu geringerer Produktivität und Umsatzverlusten führen, zeigen inzwischen mehrere Modellversuche. In Großbritannien wurden die Umsätze während des Testzeitraums im Jahr 2022 größtenteils stabil gehalten. Im Schnitt stieg der Umsatz der beteiligten Unternehmen sogar um 1,4 Prozent. Zusätzlich verbesserte sich die Gesundheit und Zufriedenheit der Beschäftigten. Vier von zehn Beschäftigten gaben an, weniger gestresst zu sein, und das Burn-out-Risiko sank um 71 Prozent. Die Zahl der Krankheitstage ging im Testzeitraum um zwei Drittel zurück.
54 Prozent der Beschäftigten fiel es außerdem leichter, Beruf und Haushalt zu vereinbaren. 60 Prozent gaben an, dass sie ihre bezahlte Arbeit besser mit ihren Care-Aufgaben vereinbaren konnten. Im Anschluss an den Modellversuch führten neun von zehn der Unternehmen die Viertagewoche fort.
Erste Ergebnisse im Mai 2024
Die gemeinnützige Organisation 4 Day Week Global aus Neuseeland möchte an diese Erfolge anknüpfen und geht nach eigener Aussage davon aus, dass die Viertagewoche weltweit weiter an Bedeutung gewinnen wird. Im Sommer dieses Jahres wurde 4 Day Week Global vom Time Magazine zu den 100 einflussreichsten Unternehmen der Welt gekürt. Neben dem britischen Test hat die Organisation unter anderem bereits Tests in Südafrika, Australien, Portugal und Irland durchgeführt. Weitere Tests sind derzeit in Brasilien und den Niederlanden geplant.
Mit ersten Ergebnissen aus dem deutschen Pilotprojekt ist im Mai zu rechnen. Die Veröffentlichung des Abschlussberichts ist für Oktober geplant. Finanziert wird das Pilotprojekt von den Unternehmen selbst, die Höhe der Beiträge richtet sich dabei nach der Größe des Unternehmens. Eine staatliche Förderung, wie etwa bei den Modellversuchen in Island und Spanien, ist in Deutschland bisher nicht vorgesehen.
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