Beinahe zu aktuell: Die Neuverfilmung von „Im Westen nichts Neues“

Zurück aus dem Ersten Weltkrieg

Mit einer Adaption des Romans „Im Westen nichts Neues“ zieht Deutschland ins Oscar-Rennen. Der Kriegsfilm ist relevanter, als es Regisseur Edward Berger lieb ist. Ein Blick zurück.

von Stefan Stosch

, 17.09.2022, 16:53 Uhr / Lesedauer: 4 min

So einen Satz hört man von einem Regisseur selten: Der Stoff sei „leider relevanter, als wir es erwartet haben“, hat Edward Berger gesagt. Die Aussage verblüfft. Kann einem Filmemacher denn etwas Besseres passieren, als ein aktuelles Thema aufzuspießen? Zudem sich Berger auf einen Roman stützt, der beinahe schon hundert Jahre alt ist und als Klassiker der Weltliteratur gilt.

Doch handelt dieses Buch vom Schrecken eines Krieges. Berger hat Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ über die Erfahrungen des Autors im Ersten Weltkrieg verfilmt. Heute tobt wieder ein Krieg in Europa, dessen Grauen täglich in Fernsehbildern dokumentiert wird. Schmerz und Leid sind in der Ukraine allgegenwärtig.

Viel weiter muss man die Parallelen gar nicht ziehen. Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 war ein Schlachten, wie es die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Erstmals zogen Giftschwaden über Schützengräben, erstmals brachten Flugzeuge den Tod aus der Luft, erstmals zermalmten Panzerketten Verteidigungslinien. In einem mörderischen Stellungskrieg gruben sich die Kombattanten ein und starben für ein paar Meter Geländegewinn.

Und noch etwas war damals neu: Mehr Soldaten als je zuvor kamen mit psychischen Schäden nach Hause zurück. Von „Kriegszittern“ oder „Granatenschock“ war damals die Rede. Die Männer litten unter Panikattacken und Schweißausbrüchen, waren gelähmt oder sprechunfähig, ohne dass dafür körperliche Ursachen zu finden waren.

Vielfach wurden sie als Schwächlinge verachtet. Die Militärführungen wollten seelische Wunden keinesfalls als ernstzunehmende Verletzungen anerkennen. So lange alle Gliedmaße dran waren, sollte ein Soldat ordentlich fürs Vaterland in die Schlacht ziehen.

Versehrt an Körper und Seele

In manchen Armeekrankenhäusern wurde regelrecht nach angeblichen Simulanten gefahndet. Das Problem war bloß: Es gab zigtausende Männer mit diesen Symptomen. Allein die britische Armee zählte bis Kriegsende 80.000 Soldaten, die nicht mehr einsatzfähig waren.

Erst viele Jahrzehnte später, in der Folge des Vietnamkriegs, kristallisierte sich ein Begriff für dieses Leiden heraus. Psychologen sprechen von einer Posttraumatischen Belastungsstörung, wie sie genauso Opfer von Folterungen oder auch von häuslicher Gewalt erleiden.

Auch Erich Maria Remarque gehörte zu jenen, die an Körper und Seele versehrt zurückkehrten. Er litt unter Angstattacken und Depressionen. Dabei war er wohl nur sechs Wochen an der Front. Aber das reichte aus, um aus ihm einen überzeugten Pazifisten zu machen – während andere wie Ernst Jünger auch hinterher den Krieg ästhetisierten.

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An der Front in Flandern

Bei Beginn des Krieges im August 1914 war Remarque gerade 16 Jahre alt. Er besuchte in Osnabrück ein katholisches Seminar und ließ sich zum Volksschullehrer ausbilden. Im November 1916 wurde er nach einem Notexamen eingezogen und kam im Juni 1917 an die Westfront.

Zu seinen Hauptaufgaben in Flandern gehörte das Schanzen, um die deutschen Linien gegen britische Offensiven zu wappnen. Immer wieder lagen die Soldaten unter schwerem Beschuss. Im Sommer 2017 wurde Remarque durch Granatsplitter verwundet. Er kam in ein Armee-Hospital in Duisburg. Der Krieg war vorbei, bevor er zurück an die Front hätte zurückkehren müssen.

Heute ist sich die Forschung sicher, dass Remarque viele der in seinem Roman geschilderten Schrecknisse gar nicht selbst erlebt hat. Das Gemetzel im Nahkampf mit Klappspaten und Handgranaten, das Verharren in überfluteten Granattrichtern und das Zischen der Geschosse über den Köpfen: Viele dieser Erlebnisse hatten ihm wohl Leidensgenossen in seiner Zeit im Krankenhaus geschildert.

Aber die meisten von ihnen redeten nach dem Krieg nicht mehr darüber. Sie vermochten es nicht, den Horror in Worte zu fassen.

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„Die verlorene Generation“

Dann erschien am 29. Januar 1929 „Im Westen nichts Neues“ im Propyläen Verlag in Berlin. Zuvor war der Roman schon in der „Vossischen Zeitung“ abgedruckt worden und hatte die Auflage des Blattes in die Höhe schnellen lassen. Angekündigt worden war das Werk als Erlebnisbericht eines Frontsoldaten: „Einer aus der grauen Masse, einer von Hunderttausenden, die als halbe Kinder dem Ruf zu den Fahnen freiwillig folgten, begeistert, ahnungslos …“

Der Erfolg des Romans überstieg alle Erwartungen: Er wurde noch im Erscheinungsjahr in 26 Sprachen übersetzt. Bis heute gibt es Ausgaben in mehr als 50 Sprachen. Weltweit wurde das Buch mehr als 20 Millionen Mal verkauft. Remarque hatte den Nerv einer ganzen Generation von Kriegsteilnehmern getroffen.

Remarque selbst verwendete den damals schon bekannten Begriff von der „Verlorenen Generation“. Von der Schulbank weg seien sie in den Krieg geschickt worden. Im Buch sinniert der Held Paul Bäumer, hinter dem sich seine eigene Person verbirgt: „Die älteren Leute sind alle fest mit dem Früheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Beruf und Interessen. Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weggeschwemmt.“

Remarque selbst hielt seinen Roman für unpolitisch: „Mein eigentliches Thema war ein rein menschliches, dass man junge Menschen von 18 Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tod gegenüberstellte.“

Joseph Goebbels organisierte Proteste

Die erste von zwei US-Kinoadaptionen erlebte ihre Berliner Premiere bereits im Dezember 1930. Nun zeigte sich, wie verhasst das Buch und in der Nachfolge der Film von Regisseur Lewis Milestone bei all jenen war, die noch immer den vergangenen Krieg lobpriesen und insgeheim schon den nächsten herbeisehnten.

Joseph Goebbels, Gauleiter der NSDAP in Berlin, zettelte bei der Premiere Proteste an. Es kam zu Tumulten. Stinkbomben und weiße Mäuse wurden im Saal losgelassen. Rund 1500 Personen versuchten, das Kino zu stürmen. Gäste, besonders vermeintlich jüdische, wurden angepöbelt und verprügelt.

Die Polizei rückte mit Hundertschaften an, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Das Prozedere wiederholte sich bei nachfolgenden Vorstellungen. Wenige Tage später verhängte die Polizei ein Demonstrationsverbot, und die Oberprüfstelle verbot den Film wegen „Herabsetzung deutschen Ansehens im Ausland“.

Als 1933 in Deutschland Bücher brannten, waren auch Exemplare von „Im Westen nichts Neues“ dabei. Der Roman galt als „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“. Da war Remarque schon in die Schweiz und später in die USA emigriert.

„Gefühl der Scham“

Erstaunlich lange hat es gedauert, bis nun erstmals ein deutscher Regisseur den Roman verfilmt: Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg sei hierzulande bis heute von einem Gefühl von Scham geprägt, so Berger. Namhafte Schauspieler von Albrecht Schuch über Devid Striesow bis zu Daniel Brühl sind mit von der Partie. Die Rolle des Paul Bäumer spielt der Österreicher Felix Kammerer, Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater.

Berger („Jack“, „Deutschland 83″) bettet seinen Film in eine zusätzliche Parallelhandlung ein: Bei ihm wird zeitgleich im Eisenbahn-Salonwagen in Compiègne über den Waffenstillstand zwischen Deutschen, Franzosen und Briten verhandelt. Das soll die Dramatik des sinnlosen Sterbens so kurz vor Kriegsschluss noch verdeutlichen, nimmt dem Tod aber jene Beiläufigkeit, die den Roman gerade ausgezeichnet.

Die Netflix-Produktion, die zuerst ins Kino kommt (29. September), hat ihre erste Auszeichnung bereits erhalten: Von deutscher Seite wird der Film ins Oscar-Rennen geschickt. Filme über die jüngere (deutsche) Geschichte erfreuen sich in Hollywood großer Beliebtheit, siehe die Exilgeschichte „Nirgendwo in Afrika“ (2001) von Regisseurin Caroline Link oder das Stasidrama „Das Leben der Anderen“ (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck. Beide holten sich die Trophäe.

Vermutlich dürften bei diesem Film auch in den Köpfen der Oscar-Academy-Mitglieder Assoziationen an den aktuellen Krieg in der Ukraine aufsteigen – allen Gewöhnungseffekten zum Trotz, die die täglichen Meldungen über das Sterben nach sich ziehen.

Darauf spielt auch der Titel „Im Westen nichts Neues“ an. Er verweist auf den Tag, an dem Paul Bäumer stirbt. Im Roman heißt es: „Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“

RND