Im Schatten der Mitbrüder - der Kölner Missbrauchsskandal
Katholische Kirche
Ein Gutachten sieht 200 katholische Geistliche als Beschuldigte im Missbrauchsskandal des Erzbistums Köln. Kardinal Rainer Woelki wollte dies geheimhalten.

Kardinal Rainer Woelki hat mit der Geheimhaltung des Missbrauchsgutachtens die katholische Kirche in eine gefährliche Krise manövriert. © picture alliance/dpa
Das Gewissen. Allein das Gewissen entscheidet. Drunter tut es Kardinal Rainer Woelki nicht mehr, wenn es darum geht, sich gegen die massive Kritik an seinem Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum Köln zu verteidigen.
Nicht einmal seine katholischen Mitbrüder in der Deutschen Bischofskonferenz aber, die sich heute zu ihrer Frühjahrsvollversammlung treffen, nehmen ihm diese Verteidigungslinie noch ab.
Woelkis Entscheidung vom Oktober 2020, das Rechtsgutachten einer Münchner Kanzlei unter Verschluss zu nehmen – eine Frage des Gewissens. Sein Generalvikar Markus Hofmann spricht ihm in der Antwort auf einen von vielen Protestbriefen aus den Gemeinden des Erzbistums nach: Sich mit der Vorlage der angeblich mängelbehafteten Studie „aus der Verantwortung zu stehlen, sei mit unserem Gewissen nicht vereinbar“.
Massenhafte Kirchenaustritte
Auch im Missbrauchsfall eines mit ihm befreundeten Priesters, den der Kardinal 2015 weder untersuchte noch nach Rom meldete, hat Woelki nach eigenen Worten sein Gewissen geprüft, „und ich bin persönlich der Überzeugung, dass ich mich korrekt verhalten habe“. Für ein Urteil von höchster Instanz hat er sich an den Stellvertreter Christi, den Papst, gewandt. Ein offizieller Bescheid steht aus. Angeblich aber attestiert der Vatikan dem Kölner Kardinal, Chef eines der reichsten und damit mächtigsten Bistümer weltweit, allenfalls die Verletzung des Klugheitsgebots, wenn überhaupt.
Der Kardinal und seine Berater wissen sehr wohl: Die „Kölner Wirren“ mit einem Ansturm auf die Kirchenaustrittsstelle des Kölner Amtsgerichts und einem Vertrauensverlust der Kirche sondergleichen sind damit nicht aus der Welt. Nach Wochen des Mauerns und des Beschwörens einer angeblichen (Medien-)Kampagne gegen einen unliebsamen, weil konservativen Oberhirten ist der Kardinal nun auf dem Entschuldigungstrip.
„Ich habe Schuld auf mich geladen“, schreibt er in seinem traditionellen Hirtenbrief zum Beginn der Fastenzeit und räumt zum wiederholten Mal Fehler im Prozess der Aufarbeitung und der begleitenden Krisenkommunikation ein.
Ignoranz gegenüber den Belangen Schutzbedürftiger
In Auszügen aus dem Münchner Gutachten, die durch das Erzbistum Köln selbst bekannt gemacht wurden, ist unter anderem von unentschuldbarem Versagen die Rede, von fehlender Fürsorge für die Opfer, Desinteresse, ja Ignoranz gegenüber den Belangen Schutzbedürftiger sowie einem Agieren wie in einem „totalitären Herrschaftssystem“. Man ahnt, dass die Verantwortlichen so etwas ungern über sich lesen wollen.
Ein Beschuldigter hat den Druck nicht mehr ausgehalten: Am Wochenende hat sich ein ehemaliger Priester aus der Erzdiözese Köln, der sich in den Neunzigerjahren an einem Jungen vergangen haben soll, das Leben genommen. Das Erzbistum hatte Anfang Februar den Fall selbst an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.
Vorlage von Gerckes Gutachten am 18. März
Unzufrieden mit dem Münchner Gutachten hat Woelki beim Kölner Strafrechtler Björn Gercke ein Ersatzgutachten in Auftrag gegeben. Das soll nun am 18. März vorgelegt werden. Erste Zahlen sind schon im Umlauf. Nach einem Bericht des „Kölner Stadt-Anzeigers“ unterscheiden sie sich kaum von der Münchner Erhebung – sind aber um mehr als das Doppelte so hoch wie die ursprünglichen Angaben des Erzbistums aus dem Jahr 2018.
Damals wurden 87 beschuldigte Kleriker und 135 Opfer genannt. Jetzt sollen es 270 bis 300 Opfer sowie 200 bis 230 Beschuldigte sein. Ohne genauere Erläuterungen sind die bloßen Zahlen allerdings nur bedingt aussagekräftig.

Kardinal Rainer Woelki. © picture alliance/dpa
Bis zur Vorlage von Gerckes Gutachten am 18. März bittet der Kardinal regelmäßig um Geduld. Er verspricht, es würden Verantwortlichkeiten für jahrzehntelanges Vertuschen, Verdrängen, Verschweigen und Missachten der Opfer festgestellt, und es würden Namen genannt. Zur Aufdeckung der „systemischen Zusammenhänge“ benötige er „hinsichtlich aller relevanten Personen eine bestimmte qualitative und quantitative Faktenlage, die ein klares und konsequentes Veränderungshandeln dann auch nachhaltig möglich macht“, erklärt Woelki in seinem Hirtenbrief. Als habe es die gutachterliche Darstellung der Faktenlage nie gegeben.
Bischöfe wehren sich
Wie groß der Ärger über den Mitbruder aus Köln ist, lässt sich daran erkennen, dass führende Bischöfe es längst nicht mehr bei dröhnendem Schweigen belassen.
Terminlich treffen Woelkis jüngste Äußerungen mit dem Frühjahrstreffen der Bischofskonferenz zusammen. Die erlebt am heutigen Dienstag eine Premiere: Noch nie zuvor in der Kirchengeschichte haben die knapp 70 Würdenträger online getagt. Das Thema des sexuellen Missbrauchs und seiner Aufarbeitung steht – wieder einmal – auf der Agenda der dreitägigen Konferenz. Und, so berichten es Insider, es wird erwartet, dass zumindest ein Teil der Bischöfe Tacheles mit Woelki reden wolle. „Auch denen“, heißt es, „laufen doch wegen Köln die Leute weg.“
Der Limburger Bischof Georg Bätzing etwa sagte am Wochenende Die „Lage in Köln“ beeinflusse sein Bistum „in erheblicher Weise“. Er spüre, „dass in der öffentlichen und innerkirchlichen Wahrnehmung und auch unter Betroffenen die Frage wieder stärker ist: Kann ich denen glauben? Kann ich sogar bereit sein, da mitzuwirken? Scheint mir das glaubwürdig?“ Mit anderen Worten: Die Kölner Situation belastet allerorten den Kampf der katholischen Kirche um Glaubwürdigkeit.
Bischöfe befürchten „verheerende“ Folgen außerhalb Kölns
Er sage das „als Nachbar“, betonte Bätzing. Aber natürlich kommt seinem Wort besondere Bedeutung zu, weil er auch Vorsitzender der Bischofskonferenz ist. Und in dieser Funktion hat er sich zuletzt auch nicht viel anders über die Vorgänge in Köln geäußert. Da war sogar von einem Desaster die Rede.
Von „verheerenden“ Folgen „für uns alle“ sprach der Münchner Kardinal Reinhard Marx. Er hatte selbst ein Missbrauchsgutachten bei der Kanzlei in Auftrag gegeben, deren Arbeit Woelki als „untauglich“, weil nicht gerichtsfest, abkanzelt.
Ungefähr das dürfte er auch den Bischöfen vor ihren Bildschirmen sagen. Und wenn sie ihn nach seinem Agieren fragen, wird er ihnen mutmaßlich auch das Gleiche erklären wie jüngst den Kölner Katholikinnen und Katholiken in seiner wöchentlichen Videobotschaft auf „domradio.de“: Die Kirche müsse der Versuchung widerstehen, ihre Macht für sich selbst zu gebrauchen, sich stattdessen für die Opfer sexuellen Missbrauchs einsetzen und deren „berechtigten Ruf nach Gerechtigkeit höher schätzen als das eigene Ansehen“. Das, so Woelki, bedeute Verantwortung übernehmen, Verantwortliche benennen und Fehler der Institution klar aussprechen. „Und wir müssen mit einer starken Prävention Missbrauch im Keim verhindern.“
Rufe nach Rücktritt Woelkis
Interessant ist, was Verantwortung übernehmen demnach nicht bedeutet: einen Rücktritt. Die Rufe danach gibt es – auch aus den Reihen des Kölner Klerus. Der Kölner Stadtdechant Robert Kleine etwa, als Mitglied des Domkapitels auch Teil der Bistumsleitung, beurteilt Woelkis bisherigen Umgang mit dem Münchner Gutachten öffentlich als Fehler: „Konsequenzen wird es doch so oder so geben müssen. Ich bin der Ansicht: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Die Gläubigen würden durch das Verhalten ihrer Führung „mürbe gemacht“ und „ein Stück weit in Mithaftung genommen“.
Sichtbarste Folge sind die Kirchenaustritte. Beim Amtsgericht Köln ist der Ansturm so groß, dass über Monate keine Termine zu bekommen waren. Die Behörde stockte das Angebot ihrer Online-Buchungen von 650 auf 1000 im Monat auf. Als jüngst weitere 500 Termine für März freigeschaltet werden sollten, brach der Server zusammen.
Der Akt des Ungehorsams
Er könne es derzeit niemandem verdenken, sich von der Kirche abzuwenden, sagt der Stadtdechant. Mit einem Kirchenaustritt, erklärt der Theologieprofessor Daniel Bogner im Hinblick auf Köln, könnten Gläubige ein persönliches Zeichen der Glaubwürdigkeit setzen – im Sinne eines „pastoralen Ungehorsams“ gegen eine von jeglicher Legitimation gegenüber der Kirchenbasis abgekoppelte Hierarchie.
In der Christmette hatte Woelki die Gläubigen um Verzeihung gebten – für das, was sie an Kritik an seiner Person ertragen müssten. Das aber ertrug der Dormagener Pfarrer Klaus Koltermann nicht mehr: Mit so einer Entschuldigung habe der Erzbischof den letzten Rest Glaubwürdigkeit verspielt, schrieb er in Leserbriefen und stellte sich hinter Rücktrittsforderungen an den Kardinal.
Inzwischen haben Seelsorger und Gemeinden Woelki reihenweise das Misstrauen ausgesprochen. Der Diözesanrat, die Laien-Vertretung im Erzbistum, kündigte ihm gar die Gefolgschaft auf: Das Gremium setzte seine Mitwirkung an dem von Woelki initiierten „Pastoralen Zukunftsweg“ zur Bistums- und Pfarreireform aus. Für eine vergleichbare Rebellion muss man in der Bistumsgeschichte mehr als 700 Jahre zurückgehen.
RND
Der Artikel "Im Schatten der Mitbrüder - der Kölner Missbrauchsskandal" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.