Das idyllische Alte Dorf Westerholt ist wegen seiner vielen Fachwerkhäuser weit über die Hertener Stadtgrenzen hinaus bekannt. Doch dort zu wohnen, ist aktuell, zumindest in finanzieller Hinsicht, eine große Belastung. Im Zuge der zum Jahresbeginn in Kraft getretenen Reform wurde der Grundsteuerwert aller Häuser komplett neu bewertet und ältere deutlich hochgestuft – zu Lasten ihrer Eigentümer.
„Bei uns gibt es aber noch eine Besonderheit“, erklärt Werner Speith anhand beispielhafter Jahreszahlen: „Hier wurden die Häuser nicht 1949, sondern eher 1849 oder gar 1749 erbaut, sind also besonders alt.“ Der Rentner wohnt selbst in einem solchen Gebäude und hatte unserer Redaktion schon im vergangenen Jahr über dessen krasse Grundsteuer-Neubewertung durch das Finanzamt berichtet. Jetzt hat ihn der entsprechende Grundsteuer-Bescheid per Post erreicht.

Seine bittere Erkenntnis aus dem Schreiben: „Meine Rechnung steigt von 70 auf 500 Euro jährlich.“ Das ist umgerechnet eine Erhöhung um mehr als 600 Prozent. „Diese Riesenbelastung für die Menschen hier im Alten Dorf ist ein Skandal“, meint der Rentner.
Er ärgert sich in diesem Zusammenhang über die Lokalpolitik, speziell Bürgermeister Matthias Müller. „Es wird immer mit unseren schönen Fachwerkhäusern in Westerholt Werbung für die Stadt Herten betrieben, aber getan wird für die Bewohner letztlich nichts. Stattdessen wird die Last der Gewerbetreibenden auf uns abgewälzt“, spielt Speith auf die Tatsache an, dass Herten bei seinem Grundsteuer-B-Hebesatz keine Differenzierung vorgenommen und Privateigentum entlastet hat, im Gegensatz zur Nachbarstadt Recklinghausen.

Aber auch in anderen Stadtteilen werden Bürger enorm zur Kasse gebeten. Die Familie von Steven Gbur hat es sogar noch viel schlimmer als Werner Speith getroffen: „Wir haben eine Grundsteuererhöhung von abgerundet 1051 Prozent. 2024 waren es 133,31 Euro, 2025 sind es 1401,16 Euro. Das ist eine Erhöhung von 1267,85 Euro“, berichtet der Hertener. Er wohnt in einer Doppelhaushälfte auf der Jägerstraße. Das Haus wurde in den 1920er-Jahren erbaut – und fällt damit ebenfalls genau in jene Kategorie an Gebäuden, die von der Grundsteuerreform besonders betroffen sind: Bisher wurde dieser ältere Grundbesitz viel zu niedrig bewertet und jetzt auf einen Schlag das nachgeholt, was über Jahrzehnte versäumt wurde. Mit heftigen Folgen, wie bei dem Polizeibeamten und seiner Frau, die in einem Seniorenheim ebenfalls Vollzeit arbeitet.
„Wir denken ernsthaft über einen Nebenjob nach“
Angesichts der hohen Grundsteuer sagt er: „Diese und alle weiteren steigenden Kosten sind schon eine enorme Belastung für unsere finanzielle Situation. Wir denken daher ernsthaft über einen Nebenjob nach.“ Ihn ärgert insbesondere die Tatsache, dass sein Haus überhaupt nicht mehr das alte ist, aber trotzdem durchs Finanzamt so bewertet wird: „Wir haben alles kernsaniert und energetisch auf den modernsten Stand gebracht. Es gibt eine Wärmepumpe und Wärmerückgewinnung, eine Lüftungsanlage und Außendämmung.“
Nichtsdestotrotz sieht Steven Gbur kaum Chancen, noch rechtlich gegen die extreme Steuersteigerung vorzugehen: „Die ersten Sammelklagen sind ja bereits abgewiesen worden.“
Tanja Moulton von der Siedlergemeinschaft Herten-Süd pflichtet ihm in diesem Punkt bei: „Man kann leider nicht mehr viel dagegen machen“, sagt sie mit Blick auf die Jahreshauptversammlung der Siedler im Johannes-Gemeindezentrum an der Augustrastraße, bei der am Donnerstag (6.2.) auch ein Vertreter des Verbandes Wohneigentum anwesend war und Fragen der Mitglieder zur Grundsteuer beantwortet hat. Der Ärger über erhöhte Bescheide sei bei dem Termin groß gewesen, so Moulton, die in Herten seit dem vergangenen Herbst eine Massagepraxis betreibt.
Auch sie selbst ist finanziell betroffen: „Bisher mussten wir insgesamt rund 300 Euro pro Jahr zahlen, jetzt sind es schon für ein Vierteljahr ca. 200 Euro – also insgesamt 800.“
Privatleute nehmen die Stadt Herten in die Pflicht
Angesichts der dauerhaften Belastung durch die neue Grundsteuer würden sich Werner Speith, Steven Gbur und Tanja Moulton unisono wünschen, dass die Stadtverwaltung gegensteuert – über einen niedrigeren Hebesatz. Damit würden alle Bürgerinnen und Bürger auf einen Schlag entlastet. Denn Grundsteuer zahlen bekanntlich auch Mieter: Auf sie wird die Steuer nachträglich über die Nebenkostenabrechnung umgelegt.
Zur Erinnerung: Für die Grundsteuer B, die Privateigentum betrifft, ist der Hertener Satz mit 920 Prozent nach Gladbeck (929) der zweithöchste im gesamten Kreis Recklinghausen. Der „Mittelstand“ bei den Einkommen müsse daher dringend entlastet werden, appelliert Steven Gbur an die Verantwortlichen im Rathaus.
Sauer ist er aber auch auf Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Äußerungen unmittelbar nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem die Grundsteuerreform 2018 auf den Weg gebracht wurde: „Damals hieß es von ihm, dass es kaum eine Mehrbelastung geben würde.“ Offenbar eine völlige Fehleinschätzung – wie Steven Gbur jetzt schwarz auf weiß in seinem Bescheid lesen kann.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 8. Februar 2025.