Wenn Kinder Kinder töten Fassungslosigkeit und Entsetzen nach Tod von Luise F. (12)

Wenn Kinder Kinder töten: Fassungslosigkeit und Entsetzen nach Tod von Luise F. (12)
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„Fassungslos - sprachlos - hilflos“: Drei Worte stehen auf einer Seite im Kondolenzbuch für die getötete 12-jährige Luise in der evangelischen Kirche Freudenberg. Sie drücken gut aus, was viele Menschen in der kleinen Stadt bei Siegen in Nordrhein-Westfalen gerade fühlen.

Seit dem Wochenende trauern die Menschen um die 12-jährige Schülerin, die nach dem Besuch bei einer Freundin auf dem Heimweg in einem Waldstück bei Freudenberg getötet wurde. Am Dienstag nun die Nachricht: Die mutmaßlichen Täterinnen sind selbst noch Kinder. Zwei 12- und 13-jährige Mädchen haben gestanden, Luise mit zahlreichen Messerstichen getötet zu haben - einem Medienbericht zu Folge sollen es rund 30 Stiche gewesen sein. Die Kinder kannten sich.

Wer mit den Menschen in der Freudenberger Innenstadt spricht, stößt immer wieder auf die eine Frage: Warum? Warum musste die Schülerin sterben? Und warum begingen zwei Kinder wohl eine so grausame Tat?

Bei einer Pressekonferenz im Polizeipraesidium Koblenz (Rheinland-Pfalz) zum Fall des getöteten zwölfjährigen Mädchens aus dem siegerländischen Freudenberg (Nordrhein-Westfalen).
Bei einer Pressekonferenz im Polizeipraesidium Koblenz (Rheinland-Pfalz) zum Fall des getöteten zwölfjährigen Mädchens aus dem siegerländischen Freudenberg (Nordrhein-Westfalen). © picture alliance/dpa/Sascha Ditscher

Die Ermittlungsbehörden halten sich mit Antworten auf diese Fragen sehr zurück. Die mutmaßlichen Täterinnen müssten geschützt werden - gerade weil sie selbst noch Kinder seien, betonte der Leitende Oberstaatsanwalt in Koblenz, Mario Mannweiler. Nur so viel sagt er: „Was für Kinder möglicherweise ein Motiv ist für eine Tat, würde sich einem Erwachsenen möglicherweise nicht erschließen.“ Angesichts der vielen Stichverletzungen bei dem Opfer liege jedenfalls die Vermutung nahe, „dass irgendwelche Emotionen eine Rolle gespielt haben“.

Wie Focus und Rheinische Post (RP) am Mittwoch berichten, könnte Rache das Motiv für die Tat gewesen sein. „Es ging irgendwie um Beleidigungen und sich lustig machen im Internet. Das könnte eine Rolle gespielt haben für die Tat“, sagt ein Insider gegenüber der RP.

Die beiden Mädchen leben vorerst nicht mehr bei ihren Eltern. Sie seien „außerhalb des häuslichen Umfeldes untergebracht“, teilte der zuständige Kreis Siegen-Wittgenstein mit. „Das ist auch damit verbunden, dass die Kinder nicht ihre bisherigen Schulen besuchen.“

Die Mädchen hätten aber weiterhin Kontakt zu ihren Eltern. „Der Kontakt zur Familie ist aufgrund des jungen Alters der Mädchen für die Entwicklung einer gelingenden Unterstützung sehr bedeutsam und wird insofern unterstützt“, teilte der Kreis mit. Auch für die beiden Tatverdächtigen handele es sich um eine „ganz außergewöhnliche Situation, die viel Empathie und umsichtiges Agieren erfordert“, sagte Kreis-Jugenddezernent Thomas Wüst.

Tod von Luise F.: Strafrechtlich keine Folgen

Strafrechtlich wird der Tod von Luise keine Folgen haben. Kinder unter 14 Jahren sind grundsätzlich schuldunfähig - selbst bei einem so schlimmen Verbrechen wie Mord oder Totschlag. Denn es wird davon ausgegangen, dass sie die Folgen ihres Handelns noch nicht ausreichend überblicken. Bei aufsehenerregenden Fällen wird allerdings oft gefordert, das Alter für die Strafmündigkeit abzusenken.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sieht trotz der schrecklichen Tag keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf - etwa in Form einer Absenkung des Alters für Strafmündigkeit. „Dass offenbar zwei kleine Mädchen diese abscheuliche Tat begangen haben, lässt sich kaum begreifen und macht tief betroffen“, sagte Buschmann am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Solch schwere Verbrechen können nicht folgenlos bleiben - sie tun es in der Regel auch nicht.“

Kinder unter 14 Jahren würden zwar strafrechtlich nicht belangt, „aber unsere Rechtsordnung kennt andere Wege, um darauf zu reagieren, etwa das Kinder- und Jugendhilferecht sowie das Familienrecht“, sagte Buschmann. „Heute machen mich aber der Tod des kleinen Mädchens und die schrecklichen Umstände einfach nur traurig“, fügte er hinzu.

Blick auf den Hohenhainer Tunnel in der Nähe des Fundort des getöteten Mädchens Luise.
Blick auf den Hohenhainer Tunnel in der Nähe des Fundort des getöteten Mädchens Luise. © picture alliance/dpa

Am Ende der Ermittlungen gibt die Staatsanwaltschaft den Fall an die Jungendbehörden weiter. Welche Maßnahmen dort ergriffen werden, hängt Experten zufolge stark vom Einzelfall ab.

Denkbar sei, dass ein Kind eine psychiatrische Behandlung bekommt, unter Umständen auch in einer geschlossenen Einrichtung. Möglich ist auch, dass die Eltern Hilfe bei der Erziehung bekommen - oder dass das Kind eine Zeit lang in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie untergebracht wird. Die rechtlichen Hürden für eine Trennung von den Eltern gegen deren Willen sind aber hoch.

Anstieg bei Gewalttaten von Kindern in NRW

Dass Kinder unter 14 Jahren Gewalttaten wie schwere Körperverletzung, sexuellen Missbrauch, Totschlag oder Mord begehen, kommt eher selten vor. 2021 ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr bundesweit angestiegen (7477 zu 7103). Verglichen mit 2019 gab es 2021 jedoch einen Rückgang um rund zehn Prozent.

Bei den Delikten gegen das Leben sind die absoluten Zahlen äußerst niedrig: 2021 gab es in diesem Bereich bundesweit 19 tatverdächtige Kinder, darunter vier Mädchen. Die Zahlen schwanken von Jahr zu Jahr stark, in den vergangenen 20 Jahren lagen sie jährlich zwischen vier und 21 Tatverdächtigen. Zur Einordnung: Laut Statistischem Bundesamt lebten in diesem Jahr rund 8,5 Millionen Kinder unter 14 Jahren in Deutschland.

Zuletzt hat ein Mord im niedersächsischen Salzgitter Aufsehen erregt, an dem ein Kind beteiligt war: Ein 14-Jähriger und ein nicht strafmündiger 13-Jähriger erstickten im Juni 2022 eine 15-jährige Jugendliche. 2016 schlug ein 13-Jähriger in Bad Schmiedeberg (Sachsen-Anhalt) einen gleichaltrigen Jungen mehrfach so heftig gegen den Kopf, dass dieser starb.

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sprach von einem beunruhigenden Anstieg in Nordrhein-Westfalen. „Wir müssen diese Entwicklung nicht nur genau beobachten, wir müssen sie untersuchen, Ursachen finden und Präventionsarbeit leisten“, betonte er. „Die Tat von Freudenberg wird Spuren über den schrecklichen Tod von Luise hinaus hinterlassen.“ Was diese Tat in der Orts- und der Schulgemeinschaft auslöse, lasse sich bestenfalls erahnen, sagte Wüst.

Tat für Mitschüler kaum begreifbar

An der Schule der getöteten 12-jährigen Luise nehmen sich Schüler und Lehrer weiterhin viel Zeit für Gespräche. Normaler Unterricht finde noch nicht wieder statt, sagte Christoph Söbbeler, Sprecher der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg. „Die Schule ist im Moment der Ort, an dem für die Schülerinnen und Schüler Austausch und Trauer möglich sind.“

Nachdem bekannt wurde, dass Luise wohl von zwei 12- und 13-jährigen Mädchen aus ihrem Bekanntenkreis erstochen wurde, sei der Gesprächsbedarf noch einmal groß, sagte Söbbeler. Die Kinder und Jugendlichen seien den ganzen Schultag mit ihren Klassenlehrern zusammen. „Es gibt Halt, in gewohnter Umgebung mit vertrauten Menschen zusammen zu sein - gerade jetzt, wo andere Gewissheiten zusammengebrochen sind“, sagte Söbbeler.

Psychologen und Fachleute der Bezirksregierung seien weiterhin an der Schule - auch um die Lehrer zu unterstützen. Lehrer bekämen etwa Vorschläge, wie sie ein gutes Gespräch mit ihren Klassen anstoßen und auf die Emotionen der Schüler reagieren könnten. Weitere Details nannte er nicht. „Es ist wichtig für alle, dass die Schule jetzt ein geschützter Raum ist.“

Bei der Frage, wann die Klassen wieder zum normalen Unterricht zurückkehren, lasse man der Schule große Freiheiten. „Es ist kein Zwang da, ins Stundenplan-Korsett zurückzukehren.“ Jede Klasse könne erstmal für sich entscheiden, ob normaler Unterricht wieder hilfreich sei oder nicht.

Vor allem für die Mitschüler von Luise ist die Tat nur schwer begreifbar. Ein Schüler sagt gegenüber der Siegener Zeitung (SZ), dass sein Kumpel der bestes Freund von Luise gewesen ist und die Täterinnen „gerne verkloppen würde“. Luises Tod sei „scheiße“, sagt der Junge. Es ist der kindliche Versuch, etwas in Sprache zu fassen, für dass es eigentlich keine Worte gibt, auch nicht in der Erwachsenensprache.

Mitarbeiter des Ordnungsamtes stehen vor dem Schulzentrum des ermordeten Mädchens.
Mitarbeiter des Ordnungsamtes stehen vor dem Schulzentrum des ermordeten Mädchens. © picture alliance/dpa

Doch auch unter den Erwachsenen in Freudenberg herrscht Sprachlosigkeit. Erst hatten viele Eltern Angst, dass vielleicht ein Mörder in der Stadt umgeht. In den vergangenen Tagen hatten die Mütter alle ihre Kinder abgeholt. Zwar scheint die Tatsache, dass kein Mörder sein Unwesen treibt „beruhigend“, wie ein Anwohner es gegenüber der SZ versucht in Worte zu fassen - die Erkenntnisse, wer wirklich für Luises Tod verantwortlich sind, macht es aber nicht besser. Vor allem die Tatsache, dass zwei Menschen einen anderen töten und dann straffrei bleiben, ist für alle schwer zu verstehen.

Landrat Andreas Müller spricht den Eltern der getöteten 12-Jährigen sein Mitgefühl aus: „Die grausame Tat hat uns alle schockiert, und ich kann den Eltern nur meine herzliche Anteilnahme versichern. Ganz Siegen-Wittgenstein trauert mit ihnen. Es gibt keine Worte, die beschreiben können, wie groß der Verlust ist, den sie erlitten haben. Der Schmerz der Eltern ist kaum nachzuempfinden. Ich hoffe, dass sie inmitten dieser Dunkelheit Trost und Unterstützung finden, sei es durch Freunde, Angehörige oder professionellen Beistand“, so der Landrat.

War eine Nagelpfeile die Tatwaffe?

Am Tatort war am Dienstag noch einmal die Polizei im Einsatz. Von der Tatwaffe fehlte noch immer jede Spur. Laut Siegener Zeitung könnte es sich dabei um eine Nagelpfeile handeln. Warum es nur eine Tatwaffe, aber zwei Täterinnen gibt, darüber schweigen die Ermittler.

Der Ort, an dem die Leiche von Luise gefunden wurde und wo sie wohl auch getötet wurde, liegt abgelegen im Wald an der Landesgrenze von Rheinland-Pfalz zu Nordrhein-Westfalen. Freudenberg ist einige Kilometer entfernt. Handys haben hier keinen Empfang. Das Gelände ist unwegsam, nur ein Radweg führt durch das Tal.

Eigentlich hätte Luise gar nicht hierher gehen müssen, um nach Hause zu kommen. Was die drei Mädchen hierher geführt hat, auch dazu sagen die Ermittler nichts. „Wir legen diesen Fall jetzt in die Hände der Jugendbehörden“, sagte Staatsanwalt Mannweiler. Nun seien Psychologen, Psychiater und auch die Eltern gefragt. „Die eigentliche Arbeit, die fängt jetzt erst an.“

dpa/rej

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