Flüchtlingsmädchen Myroslava (6) kann wieder lachen - in ihrer neuen ersten Klasse

© Katja Wehrland

Flüchtlingsmädchen Myroslava (6) kann wieder lachen - in ihrer neuen ersten Klasse

rnFlucht aus der Ukraine - mit Video

Myroslava grinst von einem Ohr zum anderen. Nicht ungewöhnlich für eine Sechsjährige, die das Leben noch vor sich hat. In ihrem Fall aber schon. Sie ist gerade aus der Ukraine nach Oer-Erkenschwick gekommen.

Oer-Erkenschwick

, 23.03.2022, 16:07 Uhr / Lesedauer: 3 min

22 Kinder in der ersten, der Eisbären-Klasse an der Haardschule in Oer-Erkenschwick. Am Mittwoch (23.3.) gegen zehn Uhr wird erst einmal gemeinsam gefrühstückt. Myroslava (6) löffelt ihren Joghurt, Alisa (7), die neben ihr die Schulbank drückt, knuspert an einem Brötchen. Die Mädchen haben eine gemeinsame Heimat und ein gemeinsames Schicksal: Vor wenigen Tagen erst sind die Kinder mit ihren Familien aus der Ukraine geflüchtet.

Von Charkiw und Dnipro nach Oer-Erkenschwick

Myroslava stammt aus dem zerbombten Charkiw, Alisa aus Dnipro, das ebenfalls unter Raketenbeschuss steht. Vor ein paar Tagen kannten sie sich nicht. Sie wussten gar nichts voreinander. Dann kam der erste Schultag am Montag, und da gingen zwei kleine Herzen auf. „Es ist so schön, wenn man eine Freundin hat, die meine Sprache spricht“, sagt Myroslava. Und Alisa empfindet das genauso: „Ich bin gerne hier in Oer-Erkenschwick. Alle sind so lieb und freundlich. Aber ich kann noch nicht so viel reden mit den anderen. Nur mit Myroslava.“

Klassenkameraden kennen die Ukraine nicht

Die anderen, das sind zum Beispiel die Klassenkameradinnen Inka (6) und Emma (7). Die zwei „Eisbärinnen“ geben offen zu: „Es ist komisch, wenn man neue Leute in der Klasse hat, mit denen man nicht reden kann.“ Emma erzählt, dass sie eigentlich gar keine Vorstellung davon habe, was die Ukraine überhaupt ist. Ihre Eltern hätten sie auf einen Friedenslauf mitgenommen und deshalb wisse sie, dass da Krieg sei. „Da gibt es Raketen, die alles kaputt machen.“

Bei aller Zufriedenheit rollen die Tränen doch

Myroslava ist fertig mit ihrem Joghurt und bereit für ein Interview vor der Kamera. Die Schule hier am Stimberg findet sie ziemlich prima, der Lernstoff sei leichter als daheim. Sie wirkt durchaus ein bisschen angekommen. Gefasst. Und fröhlich. Dann weint sie aber doch. Gefragt, wie das so war, als ihre Eltern Polina (28) und Andri (36) ihr und den Geschwistern Victoria (3) und Emmanuel (sechs Monate) erklärten, dass man die Heimat verlassen müsse, vielleicht nie wieder zurückkomme, da ist es um die Fassung des kleinen Mädchens geschehen, da rollen die Tränen. „Ich habe so eine Sehnsucht nach der Ukraine.“

Lieblingsfach Kunst: Bilder kommen ohne Worte aus

Auch Vera Braukst muss schlucken. Sie drückt Myroslava ganz fest. „Es ist hart, was Kinder wie Myroslava und Alisa durchmachen müssen“, sagt die 51-Jährige, die als Vertretungslehrerin drei Tage in der Woche an der Haardschule arbeitet. Sie ist Russlanddeutsche aus Kasachstan, lebt seit 23 Jahren in der Bundesrepublik, hat hier „Deutsch als Fremdsprache“ studiert und ist nun gerade jetzt unersetzlich. Und immer da, wenn es mal „brennt“. Natürlich hätten die Eltern der Mädchen ihre Handy-Nummer und ebenso natürlich helfe sie auch außerhalb des Schulalltags.

Jetzt lesen

Dort, in der Schule, haben Alisa und Myroslava ein gemeinsames Lieblingsfach, nämlich Kunst. Die Freundinnen malen gerne und stellen gerade so fest, „dass man für Bilder keine Sprache braucht.“ Da sei ja ganz klar, was man meine und sagen möchte.

Großes Verständnis für strenge Lehrer

Läuft es an deutschen Schulen lockerer als in der Ukraine? Alisa hat da eine konkrete Meinung: „Die Lehrer bei uns sind genauso lieb wie die hier. Aber wenn Kinder laut oder böse werden, dann müssen die auch mal streng werden.“ Das sei in der Heimat so und in Oer-Erkenschwick vermutlich auch.

Alisa ist ein Kind, das sehr tapfer scheint. Klar, vor dem ersten Schultag habe sie schon Angst gehabt. „Aber ich habe mir gesagt: Das ist jetzt eben so und das werde ich schaffen.“ Unterm Strich: „War schon alles ziemlich neu. Aber auch interessant und total spannend.“ Myroslava kennt das auch: Wenn morgens der Wecker klingele, „freue ich mich auf die Schule.“ Aufs Lernen, die Mitschüler - und die Pausen. Das Klettergerüst auf dem Schulhof hat es beiden Mädchen besonders angetan.

Kollegium an der Haardschule fühlt sich alleingelassen

Die zwei sind nicht die einzigen Flüchtlingskinder an der Haardschule. Am Donnerstag (24.3.) werden sich zwei weitere Kinder aus der Ukraine hinzugesellen, Heimatvertriebene u.a. aus Syrien und Albanien werden längst beschult an der Haardstraße. Wie schafft ein Kollegium, das gerade einmal aus zwölf Lehrern besteht, das? „Eigentlich nicht“, macht Carsten Dorn klare Kante. Der 52-Jährige, der seit 16 Jahren an der Haardschule unterrichtet, fühlt sich ein wenig alleingelassen „von oben“. „Wir schaffen das eigentlich nur, weil wir alle sehr motiviert sind und unseren Beruf und unsere Kinder hier lieben.“

Jetzt lesen

Was er sich wünscht: „Noch mehr Kooperation der Schulen untereinander.“ Vielleicht könne man sich mehr austauschen und einander helfen, zum Beispiel mit Lehrkräften, die ganz flexibel und bei Bedarf mal hier, mal dort arbeiteten.

Sinnvoll wären auch klare Leitlinien des Landes („Wie gehe ich mit Flüchtlingskindern um“) sowie Fortbildungen. „Und hoffentlich bekomme ich jetzt nicht einen auf den Deckel vom Ministerium“. Ach, von Alisa und Myroslava ganz bestimmt nicht. Und das ist das, was wirklich zählt.