
© Katja Wehrland
Flüchtling Andri Babych (36): „Ich töte und ich sterbe nicht für die Ukraine“
Krieg in der Ukraine
Wenn er die Ukraine verlassen würde, könnte er nicht mehr in den Spiegel sehen, sagte Vitali Klitschko in einem Interview. Andri Babych kann das. Statt der Waffe hält er seine Kinder im Arm.
Warum durfte Andri Babych (36) die Ukraine, die alles zu den Waffen ruft, was Mann ist, überhaupt verlassen? „Weil ich die Kinder habe“, erklärt Babych, „darunter das Baby.“ Es gibt Fragen, die gehören sich vielleicht nicht, erscheinen nicht angemessen, aber manchmal muss man sie trotzdem stellen: Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, hat in einem weltweit verbreiteten Interview gesagt, wenn er die Ukraine verließe, nicht für sie kämpfte, könne er nicht mehr in den Spiegel schauen. Kann der 36-jährige Familienvater Andri Babych das noch?
Andri nickt. Die Antwort lautet: „Ja, ich kann noch in den Spiegel gucken. Politik ist ein furchtbar schmutziges Geschäft. Und ich will weder töten noch sterben für einen Krieg, den ich nicht verstehe. Was ist das für eine Welt, in der so etwas geschieht? Ich möchte mich daran nicht beteiligen. Ich will nicht Opfer und auch nicht Täter sein.“
Die Flucht aus der Ukraine: Keine Baby-Nahrung, Läden geschlossen
Fünf Menschen, eine Reisetasche, ein Koffer, ein Schrott-Auto: An der Kantstraße in Oer-Erkenschwick ist die ukrainische Flüchtlingsfamilie Babych letztendlich gestrandet. In der Ukraine „gab es nichts mehr zu essen, also zu kaufen fürs Essen. Viele Läden waren geschlossen“, erzählt Andri Babych. Nur Schnaps, der sei immer irgendwie zu bekommen gewesen. Nicht für ihn, er ist ja Familienvater. Aber für andere. Um sich zu betäuben, sich aus der grausamen Wirklichkeit des Krieges zu katapultieren. Milch für Babys hingegen - Fehlanzeige.
Andri Babych (36) erinnert sich sehr gut an die zweite Woche nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine. An den dramatischen Beginn des Mangels am Notwendigsten. Auch daran, wie seine Heimatstadt Charkiw, eine Millionen-Metropole nordöstlich von Kiew, unter Beschuss genommen wurde.
Jetzt ist er mit seiner Familie in Oer-Erkenschwick und kann sein Glück - bei aller Wut, der Verzweiflung, allen Strapazen, aller Resignation - nicht fassen: „It‘s cool.“ Andri, der ein paar Brocken Deutsch kann und ein bisschen Englisch, meint damit: „Es ist wunderbar, dass wir es bis hierher, nach Oer-Erkenschwick, geschafft haben.“
Eine abenteuerliche, sehr strapaziöse Flucht
Wir, das sind Ehefrau Polina (28), Tochter Myroslava (6), deren Schwester Victoria (3) und Baby Emmanuel (sechs Monate). Über abenteuerlichste Kontakte, Freundschaften und dienstliche Beziehungen, kam Katrin Koprowski aus Oer-Erkenschwick an die Babychs aus der Ukraine. Sie organisierte einen Flug von Krakau aus, wo die Familie zunächst gestrandet war. „Ich habe mein letztes Geld zusammengekratzt“, erzählt Familienvater Andri, „und habe ein uraltes Auto gekauft.“ Das ging ständig kaputt, brachte die Babychs aber doch bis Krakau. Dann ging es ab in den Jet – nach Deutschland.
Helferin in Oer-Erkenschwick hat mehr zu tun, als sie gedacht hatte
„Puh, da ist mittlerweile mehr zu tun, als ich gedacht hatte“, stöhnt die Mutter von zwei Kindern, die sich ausgerechnet kürzlich noch einen Fuß gebrochen hat und an Krücken läuft. Da müssten Anträge gestellt werden für die Ukrainer, Kindergarten- und Schulplätze fallen auch nicht vom Himmel.
Untergekommen sind die Babychs in der frei stehenden Wohnung eines Zweifamilienhauses an der Kantstraße. „Die gehört Maus“, sagt Andri Babych – es folgt eine kurze Verwunderung. Denn Vermittlerin Katrin Koprowski kennt nur „Biggi“, der das Haus gehört und die das Untergeschoss bewohnt. Alle lachen herzlich, als sich das Missverständnis aufklärt. Andri hatte gehört, wie Biggis Mann sie „Maus“ nannte und hatte das für einen ganz normalen deutschen Vornamen gehalten.
Ansonsten gibt es eigentlich wenig Grund zum Lachen. Flucht ist etwas, was die Existenz infrage stellt. „Wir sind trotzdem unendlich glücklich, hier sein zu dürfen“, versichert Andri Babych. Ein junger, gesunder, als Handwerksmeister universell ausgebildeter Mann. „Ich möchte ganz schnell die deutsche Sprache erlernen“, gibt er zu verstehen. „Und arbeiten.“
Die Eltern Babych möchten nie wieder zurück in die Ukraine. „Wohin soll ich denn zurück?“, fragt Mutter Polina. „Meine Stadt liegt in Trümmern. Sie ist zu großen Teilen völlig zerstört.“ Ewig werde es dauern, zu dem Zustand vor dem 24. Februar, dem Tag des Angriffs, zurückzukehren. Und Ehemann Andri ergänzt: „Ich sehe dort keine Zukunft für meine drei Kinder. Eine Zukunft sehe ich aber wohl hier, in Deutschland.“
Die kleine Myroslava freut sich auf neue Schulfreundinnen
Für die sechsjährige Myroslava hat diese Zukunft am Montag, 21. März, begonnen. Da nämlich hatte sie ihren ersten Schultag in der Haardschule. Schon am Freitag freute sie sich darauf. Okay, vielleicht weniger auf Hausaufgaben, aber: „Ich möchte wieder Freundinnen haben.“
Die Kinder, ist das Ehepaar Babych sicher, sind durch die Flucht an sich nicht seelisch traumatisiert. Da sei die körperliche Belastung während der langen Zeit im Schrott-Auto gewesen, aber auch die habe sich mittlerweile relativiert: „Als wir ankamen, haben wir erstmal tüchtig gegessen und so richtig ausgeschlafen.“ Das habe allen sehr gutgetan. Andri räumt allerdings für sich und seine Frau ein: „Was da so wirklich geschehen ist, das wissen wir bis heute nicht. Das müssen wir erst einmal verarbeiten. Im Kopf und im Herzen.“ Eines aber stehe fest: „Wir möchten bei euch bleiben.“
Es gibt keinen Menschen, kein Thema, über den/das zu schreiben sich nicht lohnte; eine Erfahrung aus nahezu 40 Jahren im Medienhaus Bauer. Privat: am liebsten in der Natur mit zwei Altdeutschen Möpsen und dem Tierschutz verpflichtet.